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Das Schwert in Der Stille

Das Schwert in Der Stille

Titel: Das Schwert in Der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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die Toten aus der Erde gestiegen. Es war leicht, sich in ihr zu verlieren, leicht, unseren aufmerksamen Wachen zu entkommen.
    Die Nacht war lau und ruhig. Ich ging mit Shigeru zum Flussufer, und wir stellten brennende Kerzen in die zerbrechlichen kleinen Boote, die mit Gaben für die Toten beladen waren. Die Tempelglocken läuteten, und Gesänge und Gebete schallten über das langsam fließende braune Wasser. Wir sahen den Booten zu, die in der Strömung davontrieben, und hofften, die Toten würden so getröstet, dass sie die Lebenden in Frieden ließen.
    Doch ich hatte keinen Frieden im Herzen. Ich dachte an meine Mutter, meinen Stiefvater und meine Schwestern, meinen seit langem toten Vater, die Menschen von Mino. Lord Shigeru dachte zweifellos an seinen Vater, seinen Bruder. Ihre Geister schienen uns nicht zu verlassen, bis ihr Tod gerächt sein würde. Um uns herum setzten Menschen weinend und schluchzend ihre erleuchteten Boote ins Wasser, und mein Herz verkrampfte sich vor nutzloser Trauer darüber, dass die Welt war, wie sie war. Die Lehren der Verborgenen kamen mir in den Sinn, soweit ich mich an sie erinnerte, doch dann erinnerte ich mich daran, dass alle Menschen, von denen ich sie gelernt hatte, tot waren.
    Die Kerzenflammen brannten lange, sie wurden kleiner und kleiner, bis sie Glühwürmchen glichen, dann Funken und schließlich den Phantomlichtern, die man sieht, wenn man zu lange in Flammen starrt. Der Vollmond am Himmel hatte die orangefarbene Tönung des Spätsommers. Es graute mir davor, zur Herberge zurückzugehen, in das stickige Zimmer, wo ich mich die ganze Nacht herumwälzen und auf die Verborgenen horchen würde, die an der Schlossmauer starben.
    Feuer waren am Flussufer angezündet worden, und jetzt fingen die Leute an zu tanzen, den schwermütigen Tanz, der die Toten willkommen heißt, sie ziehen lässt und die Lebenden tröstet. Trommeln schlugen und Musik erklang. Das hob meine Laune etwas, und ich stand auf, um zuzuschauen. In den Schatten der Weiden sah ich Kaede.
    Sie stand bei Lady Maruyama, Sachie und Shizuka. Shigeru erhob sich und ging zu ihnen. Lady Maruyama kam ihm entgegen und sie begrüßten sich mit kühlen, förmlichen Floskeln, drückten Mitgefühl für die Toten aus und sprachen über die Reise. Sie standen wie selbstverständlich Seite an Seite und beobachteten die Tanzenden. Aber mir war, als könne ich die Sehnsucht zwischen ihren Worten hören und ihre wahre Haltung erkennen, und ich hatte Angst um sie. Ich wusste, dass sie sich verstellen konnten - das hatten sie seit Jahren getan -, aber jetzt begann ein verzweifeltes Endspiel, und ich fürchtete, sie würden vor dem endgültigen Zug die Vorsicht außer Acht lassen.
    Kaede war nun allein am Ufer, getrennt von Shizuka. Ich schien ohne eigenen Entschluss plötzlich neben ihr zu stehen, als wäre ich von Geistern zu ihr getragen worden. Ich schaffte es, sie höflich, aber schüchtern zu begrüßen. Wenn Abe mich bemerken sollte, würde er nur denken, dass ich für Shigerus Verlobte eine pubertäre Verliebtheit empfand. Ich sagte etwas über die Hitze, doch Kaede zitterte, als würde sie frieren. Einige Sekunden standen wir schweigend da, dann fragte sie leise: »Wen betrauern Sie, Lord Takeo?«
    »Meine Mutter, meinen Vater.« Nach einer Pause fuhr ich fort: »So viele sind tot.«
    »Meine Mutter liegt im Sterben«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, sie noch einmal zu sehen, aber wir sind auf dieser Reise so sehr aufgehalten worden, dass ich fürchte, zu spät zu kommen. Ich war sieben, als ich als Geisel weggeschickt wurde. Länger als mein halbes Leben habe ich meine Mutter und meine Schwestern nicht gesehen.«
    »Und Ihr Vater?«
    »Er ist auch ein Fremder für mich.«
    »Kommt er zu Ihrer…?« Zu meiner Überraschung war meine Kehle ausgetrocknet, und ich brachte das Wort nicht heraus.
    »Meiner Hochzeit?«, fragte sie bitter. »Nein, er wird nicht da sein.« Ihr Blick war auf den Fluss mit den vielen Lichtern gerichtet; jetzt schaute sie an mir vorbei auf die Tänzer, auf die Menge der Zuschauer.
    »Sie lieben sich«, sagte sie wie im Selbstgespräch. »Deshalb hasst sie mich.«
    Ich wusste, dass ich nicht da sein sollte, nicht mit ihr reden sollte, aber ich konnte mich nicht zum Fortgehen zwingen. Ich versuchte, meiner Rolle als sanfter, schüchterner, wohlerzogener junger Mann gerecht zu werden. »Ehen werden aus Gründen der Pflicht und des Bündnisses geschlossen. Das bedeutet nicht, dass sie unglücklich sein

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