Das Schwert in Der Stille
Vom Boden aus war er nicht zu erkennen, doch von hier aus konnten wir wie die Adler auf ihn hinunter schauen.
Auf der gegenüberliegenden Seite waren in der nordwestlichen Außenmauer die Küchen und andere Arbeitsräume untergebracht.
Meine Blicke wechselten von einer Seite des Palasts zur anderen. Die Westseite war sehr schön, fast sanft, die Ostseite brutal in ihrer Strenge und Gewalt, und die Brutalität wurde noch durch die Eisenringe betont, die in die Mauern unterhalb der Fenster eingelassen waren.
Hier, erklärten uns die Wachen, wurden Iidas Feinde in Körben aufgehängt; so steigerte man das Leiden der Opfer und damit auch Machtgenuss und Glanz des Herrschers.
Als wir wieder die Treppe hinuntergingen, hörte ich, wie sich die Männer über uns lustig machten und die alten Witze erzählten, mit denen die Tohan immer die Otori verspotteten: dass sie im Bett lieber Jungen als Mädchen hätten, dass ihnen eine gute Mahlzeit wichtiger sei als ein anständiger Kampf, dass sie ernsthaft geschwächt seien durch ihre Sucht nach heißen Quellen, in die sie immer pissten. Das raue Gelächter drang bis zu uns. Verlegen murmelte unser Begleiter eine Entschuldigung.
Ich versicherte ihm, dass es uns nichts ausmache, und blieb einen Augenblick im Torweg zum inneren Schlosshof stehen, als sei ich von der Schönheit der Purpurwinden fasziniert, die über die Steinmauern der Küchen krochen. Ich hörte all die üblichen Küchengeräusche: das Zischen kochenden Wassers, das Klappern von Stahlmessern, ein ständiges Klopfen, mit dem Reiskuchen gemacht wurden, die Schreie der Köche und das schrille Geplauder der Küchenmädchen. Aber unter alldem drang aus der anderen Richtung, von innerhalb der Gartenmauer, noch etwas an meine Ohren.
Nach einem Augenblick wusste ich, was es war: die Schritte von Leuten, die über Iidas Nachtigallenboden kamen und gingen.
»Hören Sie diesen sonderbaren Lärm?«, fragte ich Kenji unschuldig.
Er runzelte die Stirn. »Was kann es sein?«
Unser Gefährte lachte. »Das ist der Nachtigallenboden.«
»Der Nachtigallenboden?«, fragten wir gleichzeitig.
»Es ist ein Boden, der singt. Niemand, noch nicht einmal eine Katze, kann ihn überqueren, ohne dass der Boden zirpt wie ein Vogel.«
»Es klingt wie Magie«, sagte ich.
»Vielleicht ist es das.« Der Mann lachte über meine Leichtgläubigkeit. »Was immer es sein mag, Seine Lordschaft schläft nachts besser in seinem Schutz.«
»Was für eine wunderbare Sache! Ich würde den Boden zu gern sehen«, sagte ich.
Immer noch lächelnd führte uns der Mann zuvorkommend um den Schlosshof zur Südseite, wo das Tor zum Garten offen stand. Das Tor war nicht hoch, aber es hatte einen mächtigen Überhang, und die Stufen, die hindurchführten, waren steil, so dass sie von einem Mann verteidigt werden konnten. Wir schauten durch das Tor zum Gebäude dahinter. Die Holzläden waren alle offen. Ich konnte den glänzenden Boden sehen, der die ganze Länge des Gebäudes einnahm.
Ein Zug von Dienstmädchen brachte Essenstabletts, denn es war fast Mittag; sie schlüpften aus ihren Sandalen und traten auf den Boden. Ich horchte auf sein Lied, und mein Herz setzte aus. Über den Boden um das Haus in Hagi war ich so leicht und geräuschlos gelaufen. Dieser Boden war viermal so groß, sein Lied unendlich komplizierter. Ich würde keine Gelegenheit zum Üben haben, nur eine einzige Chance, ihn zu überlisten.
Ich blieb so lange wie möglich, lobte und bewunderte ihn, während ich versuchte, jedes Geräusch zu orten, und von Zeit zu Zeit vergeblich die Ohren spitzte, um Kaede zu hören, die irgendwo in diesem Gebäude war.
Schließlich sagte Kenji: »Kommt, kommt! Mein Magen ist leer. Lord Takeo wird den Boden morgen wieder sehen können, wenn er Lord Otori begleitet.«
»Kommen wir morgen wieder ins Schloss?«
»Lord Otori macht Lord Iida am Nachmittag seine Aufwartung«, sagte Kenji. »Lord Takeo wird ihn selbstverständlich begleiten.«
»Wie aufregend!« Aber mein Herz war schwer wie Stein bei dieser Aussicht.
Als wir in unser Gästehaus zurückkehrten, betrachtete Lord Shigeru Hochzeitsgewänder. Sie waren auf Matten ausgebreitet, farbenfrohe Kleidungsstücke, die mit allen Symbolen für Glück und langes Leben bestickt waren: Pflaumenblüten, weißen Kranichen, Schildkröten.
»Meine Onkel haben sie mir geschickt«, sagte er. »Was hältst du von ihrer Güte, Takeo?«
»Sie ist außerordentlich.« Beim Gedanken an ihre Falschheit wurde mir
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