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Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)

Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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Abrupt blieb er stehen. Seine Schultern sackten herab.
    »Ich dachte, es wären mehr«, sagte er leise.
    Vor ihm breiteten sich die Rheinwiesen bis zum sandigen Ufer des Flusses aus. Einige Karren standen dort, Ochsen grasten neben ihnen. Einige Dutzend Menschen hatten sich um mehrere Feuer versammelt. Nicolaus sah ich nicht.
    »Die halbe Stadt wollte doch gehen.« Hugo klang enttäuscht. »Wo sind denn alle?«
    Konrad ließ meine Hand los. »Sie kommen vielleicht noch, wenn sie ihre Sachen gepackt haben … oder so.«
    »Oder so.« Hugo trat in den Dreck.
    »Wieso bist du wütend?«
    Ich drehte mich um, als ich die Stimme hörte, und da stand auf einmal Nicolaus vor mir, seinen Schäferstab in der Hand.
    Seine Augen waren hellblau und klar wie Regentropfen an einem heißen Tag. Er hatte sich ein Hemd übergezogen, der Querbalken des abgebrochenen Kreuzes war im Ausschnitt zu sehen.
    »Wieso bist du wütend?«, wiederholte er.
    Hugo wirkte eingeschüchtert. Ohne den Kopf zu heben, zuckte er mit den Schultern.
    »Weil dich alle im Stich lassen«, sagte Konrad an seiner Stelle.
    Nicolaus zeigte mit dem Stab auf die Wiese. »Aber es sind doch viele gekommen.« Er sah Hugo an, als der endlich den Kopf hob. »Und wenn nur du dem Ruf gefolgt wärst, wäre es auch gut. Das Licht des einen scheint genauso hell wie das der tausend.« Er lächelte. »Ich habe die Botschaft des Engels verbreitet, damit mehr an der Gnade Gottes teilhaben können. Jedes Kind, jeder Arme, Kranke, Verstoßene, der sich mir anschließt, wird von seinen Sünden reingewaschen an die Himmelspforte treten und Einlass finden. So hat es der Engel verkündet.«
    Seine Worte berührten mich. Er klang nicht wie ein Schäfer, aber auch nicht wie ein Priester oder Mönch. Seine Stimme wollte weder zu seinem Alter noch zu seinem offenen Gesicht passen. Vielleicht wurde ein Mensch so, wenn ein Engel zu ihm sprach.
    Und dann hörte ich den Gesang. Er löste sich aus dem beständigen Rauschen des Flusses wie Morgennebel, der aus einem Tal aufstieg. Nicolaus drehte sich nicht um, so als habe er die ganze Zeit gewusst, dass die Menschenmenge, die über die Felder auf uns zuging, kommen würde. Es waren Hunderte, vielleicht Tausende, ich sah zerlumpte Gestalten, vor allem Kinder und Jugendliche, aber auch Greise, Krüppel und Bettler.
    Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich Vater Ignatius zwischen ihnen entdeckte. Ein Mann mit stumpfgrauer Brustplatte ging neben ihm her, die Hand auf das Schwert an seinem Gürtel gelegt. Er gehörte zur Stadtwache.
    Vater Ignatius zeigte auf mich und sagte etwas, das ich nicht verstand. Dann lösten sich beide Männer aus der Menge und gingen mir mit langen Schritten entgegen. Die anderen Menschen wurden langsamer, wirkten verunsichert. Nach und nach erstarb ihr Gesang.
    Der Soldat blieb vor mir stehen. »Bist du Madlen?«, fragte er.
    Ich nickte. Es gab nichts mehr zu sagen. Hugo und Konrad rückten näher zusammen, die Augen weit aufgerissen. Ich bereute, dass ich ihnen nicht selbst die Wahrheit gesagt hatte.
    »Wie konntest du nur«, stieß Vater Ignatius hervor. »Eine solche …« Er brach ab und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
    »Er …«, begann ich, aber der Priester ließ mich nicht aus reden. Ich hatte ihn noch nie so gesehen. Sein Gesicht glänzte verschwitzt, sein Blick flackerte.
    »Ist dir eigentlich klar«, sagte er dann mühsam ruhig, »dass der Schultheiß einen Boten geschickt hat? Einen Boten? Für eine Magd!«
    Er schrie mir die letzten Worte ins Gesicht, und ich spürte seinen Speichel auf meiner Wange. Wieso sollte der Schultheiß …?
    Dann wurde mir klar, dass es nicht um Wilhelm ging, sondern um meine unerlaubte Abwesenheit von der Burg. Ich hatte das fast vergessen.
    »Zuhause wartet die Schandmaske auf dich!«, schrie Vater Ignatius. »Und der Pranger!«
    »Auf Schwester Madlen wartet nur der Segen Gottes.« Nicolaus stützte sich auf seinen Stab. Die Menge rückte näher heran. »Sie wollte gerade das Kreuzfahrergelübde ablegen.«
    »Was will sie?« Vater Ignatius blinzelte.
    Nicolaus beachtete ihn nicht, nickte mir nur zu und bat mich mit einer Geste niederzuknien. Ich tat es, froh darüber, nicht mehr stehen zu müssen. Erleichterung und Angst ließen mich zittern.
    »Schwört ihr vor Gott und diesen Zeugen, den Weg ins Heilige Land im Namen der Christenheit anzutreten, um das Heilige Grab aus der Gewalt der Heiden zu befreien und die Schande zu tilgen, die unsere Herzen schwärzt und uns

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