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Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)

Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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du wirst dort kein Geschäft machen können, Schwester. Fast alle haben sich auf den Weg gemacht, um ihn reden zu hören.«
    »Ihn?« Ich wusste nicht, von wem er sprach. »Den Bischof?«
    »Nein, Nicolaus.«
    Er verschwand in der Menge. Erst als er weg war, bemerkte ich, dass er seinen Weinschlauch vergessen hatte.
    Ich aß die Hälfte des Brotes und trank noch etwas Wein. Meinen Beutel hatte ich in … Nein, ich wollte mich nicht daran erinnern, wo ich ihn verloren hatte. Mir wurde übel bei dem Gedanken.
    Allmählich kehrte meine Kraft zurück. Als ich meinen Beinen wieder traute, schlang ich mir den Schlauch über die Schulter und erhob mich. Das Brot steckte ich unter mein Hemd. Ich zwang mich, an nichts außer meinen Söhnen zu denken. Ihretwegen hatte ich diese Pilgerfahrt angetreten. Allem anderen würde ich mich stellen, wenn es so weit war.
    Die Straße, durch die ich ging, war gerade wie eine frisch gezogene Kerze. Geschäfte säumten sie, aber fast alle waren geschlossen. Nur ein Tuchhändler hatte geöffnet. Er saß auf einem Hocker neben seinen Waren und aß Trockenobst. Auf dem Kopf trug er eine flache Kappe. Ich hatte von Juden gehört, war aber noch nie einem begegnet. Es fiel mir schwer, ihn nicht anzustarren.
    Die Straße war belebt. Ich sah viele zerlumpte Arme, vor allem Kinder und Heranwachsende, aber auch ein paar Greise. Ebenso wie ich gingen sie auf den Dom zu. Eine seltsam aufgeregte Stimmung ging von ihnen aus. Ich fragte mich, ob sie sich auf die Ostermesse vorbereiteten.
    Es war ein bewölkter Tag. Ich sah die Sonne nicht, nahm aber an, dass es Mittag war. Vater Ignatius musste längst bemerkt haben, dass zwei seiner Pilger fehlten. Wahrscheinlich hoffte er, dass Wilhelm und ich – es war mir unmöglich, an ihn und mich als »wir« zu denken – zum ursprünglich vereinbarten Treffpunkt kommen würden. Ich musste vorsichtig sein.
    Weitere zehn Schritte brauchte ich, um den Mut zu finden, zwischen zwei Hütten zu treten und das Gebende vom Kopf zu ziehen. Vater Ignatius hatte mich seit dem Vorabend meiner Hochzeit nicht mehr ohne gesehen. Wahrscheinlich kannte er nicht einmal mehr meine Haarfarbe. Ich warf den verschwitzten, schmutzigen Stoff weg, dann mischte ich mich wieder unter die Menschen auf ihrem Weg zum Dom. Ich fühlte mich wie eine Betrügerin, unanständig und nackt.
    Die Straße war breit, trotzdem ging es am Dom nicht mehr weiter. Eine Menge hatte sich dort versammelt. Ein Teil wartete vor den geschlossenen Toren auf Einlass, der andere schien daran kein Interesse zu haben, denn sie wandten den Toren den Rücken zu und standen auf Zehenspitzen, als beobachteten sie ein gewaltiges Spektakel. Ich musste an ihnen vorbei, um in die Gasse der Schreiner zu gelangen, aber ich wusste nicht, wie. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als das Ende des Spektakels abzuwarten.
    Ich fand einen freien Platz auf dem Steinsims eines Geschäfts und kletterte darauf. Zwei junge Mädchen, barfuß und in grobes Leinen gehüllt, das fast wie ein Totenhemd aussah, standen neben mir.
    »Da ist er!«, rief die eine auf einmal und zeigte nach vorn.
    Ich folgte ihrer Geste, doch statt der tanzenden Bären, Feuerschluckern, Jongleuren oder all den anderen Spektakeln, von denen ich gehört hatte, sah ich nur ein Fass – und einen Jungen, der sich von zwei anderen darauf heben ließ. Er war klein, mager und hielt einen Schäferstab in der Hand. Auf seinem nackten Oberkörper befand sich ein Mal, das wie ein Kreuz mit abgebrochener Spitze aussah. Die Farbe erinnerte mich an Blut.
    Ich sah die Lache um Wilhelms Kopf und schloss kurz die Augen.
    »Wer ist das?«, fragte ich die Mädchen, um an etwas anderes zu denken.
    Die beiden – sie sahen sich ähnlich wie Schwestern – runzelten fast gleichzeitig die Stirn.
    »Nicolaus«, sagte die Ältere. »Warum bist du hier, wenn du das nicht weißt?«
    »Ich war auf dem Weg zur …«
    »Pssst«, unterbrach mich die Jüngere. »Er spricht zu uns.«
    Der Junge auf dem Fass hob die Arme. Seine Rippen stachen deutlich hervor. »Er ist mir wieder erschienen«, rief er, und seine Stimme war hell und klar; sie trug über den ganzen Platz. Ein Raunen ging durch die Menge.
    »Wer ist ihm erschienen?«, fragte ich leise.
    »Ein Engel«, antwortete die ältere der beiden Schwestern.
    Nicolaus sprach weiter. Er beschrieb, wie er auf den Rheinwiesen bei den Schafen gesessen und den Engel am Himmel erblickt hätte. Vor meinen Augen wob er das Bild einer überirdisch schönen

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