Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
Gestalt, die zur Erde herabgeschwebt war, um ihn zu erwählen.
Seine Worte waren so einfach, so wahr, dass ich mich ihnen nicht entziehen konnte. Niemand konnte das. Obwohl Tausende auf dem Platz standen, war es so still, als wäre ich ganz allein mit Nicolaus. Er sprach zu mir und zu keinem anderen.
Ich weinte, als er von dem heiligen Grab erzählte, das die Sarazenen uns geraubt hatten, und von den Männern, die ihr Leben dafür gelassen hatten. In meinen Gedanken hatten sie alle das Gesicht Hubert von Alens. Nicolaus sprach von heldenhaften Verlierern und blasphemischen Siegern, von der gefallenen Hauptstadt der Christenheit und dem Triumph der Sarazenen.
Und dann sagte er, dass alles »umsonst war, denn diese Kreuzzüge waren nicht Gottes Wille«. Nicolaus richtete seinen Stab auf die Menge. »Wen liebt Gott mehr als alle anderen auf der Welt? Ist es der Ritter mit dem Schwert in der Hand? Der Reiche, der Söldner mit Gold bezahlt?«
»Nein«, flüsterte ich. Tausendfach wiederholte sich das Wort auf dem Platz.
»Es sind die Armen!«, schrie Nicolaus, den Stab in die Luft streckend. »Den Armen und den Unschuldigen wird das Himmelreich gehören! Wir sind die wahren Streiter Gottes!«
Ich nickte. Es war, als hätten die Worte schon lange wie Samen in meinem Kopf gelegen, und Nicolaus’ Stimme war der Regen, der sie aufgehen ließ.
»Wir brauchen keine Waffen, keine Rüstungen, kein Gold.« Sein Brustkorb hob und senkte sich immer schneller. »Wir brauchen keine Boote, um das Meer zu überqueren, denn Gott selbst wird es vor uns teilen wie vor den Israeliten beim Auszug aus Ägypten. Er wird unser Feldherr sein, unser Schild und unser Schwert! Die Heiden werden von den Mauern Jerusalems unser Licht erblicken, unser Licht der reinen Unschuld, der Armut, und sie werden erblinden.«
Die Menge schrie, laut und wild wie ein gewaltiges Tier.
»Und jeder«, fuhr Nicolaus fort, »der an diesem Tag mit uns durch die Tore schreitet, wird von seinen Sünden reingewaschen werden und dereinst im Himmelreich dem Schöpfer zu Füßen sitzen. Und alle werden ihn lobpreisen, selbst Könige werden vor ihm knien und sagen: ›Du hast das Heilige Grab befreit! In deiner Schuld steht die ganze Christenheit.‹«
Er brach ab, schwankend stand er auf dem Fass. Arme reckten sich ihm entgegen, um ihn zu stützen, falls er stürzte.
»Wer begleitet mich?«, fragte er so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Dann wurde er lauter. »Wer begleitet mich? Wer begleitet mich?«
»Ich«, flüsterte ich.
»Ich!«, schrien die Mädchen.
»Mutter?«, fragte eine Stimme unter mir.
Kapitel 5
Ich umarmte und küsste sie, weinte und lachte. Es war ihnen peinlich, aber das störte mich nicht.
Hugo war größer als ich und hatte die breiten Schultern seines Vaters geerbt. Sein Gesicht war noch glatt, doch das würde sich bald ändern. Konrad wirkte neben ihm schmächtig und klein. Nur zwei Jahre lagen zwischen ihnen, doch sie trennten den Mann vom Kind.
»Ist Vater auch hier?«, fragte Hugo, als ich ihn und seinen Bruder schließlich losließ.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, der Herr hat euren Vater zu sich geholt.«
Das war der Moment, vor dem ich mich am meisten gefürchtet hatte, doch als ich in die Gesichter meiner Söhne sah, wurde mir klar, dass das unnötig gewesen war. Sie brachen nicht zusammen, sie weinten noch nicht einmal. Nur Konrads Unterlippe zitterte ein wenig.
»Dann ist er jetzt hier«, sagte er. »Er sieht uns doch aus dem Himmel zu, oder?«
»Ja, das tut er.« Der Gedanke war mir nie gekommen. Vielleicht hätte er mich getröstet, hätte es nicht auch bedeutet, dass Wilhelm … Nein, ich würde nicht daran denken.
Um uns herum löste sich die Menge auf. Menschen redeten aufgeregt miteinander, ich hörte Worte wie »Jerusalem« und »Kreuzzug«. Kinder ahmten Nicolaus nach. Sie zogen sich die Hemden aus und schmierten sich mit Dreck abgebrochene Kreuze auf die Brust. Eine größere Gruppe ging die Straße hi nunter in Richtung Rhein.
»Hast du ihn reden gehört, Mutter?«, fragte Hugo. Er schien die Nachricht vom Tod seines Vaters bereits vergessen zu haben. Seine Augen leuchteten. Früher einmal hatte er mich Mama genannt.
»Ja.« Die Erinnerung an Nicolaus’ Worte trieb einen Schauer über meinen Rücken. Ich rieb mir die Arme, und das Gefühl verschwand. »Wer ist er?«
»Niemand weiß es.« Konrad sah sich um, als wolle er sicherstellen, dass uns niemand belauschte. »Er trägt einen Schäferstock,
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