Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
aber er hat keine Herde. Man sieht ihn nie etwas essen, und einer der Gerberlehrlinge hat mir erzählt, er sei Nicolaus gefolgt, und der habe sich vor seinen Augen in Luft aufgelöst.«
Hugo stieß seinem Bruder den Ellenbogen in die Seite. »So ’n Blödsinn. Er löst sich nicht auf, Hans hat wieder Mist geredet. Er hat Flügel. Nachts fliegt er über die Stadt und sucht Kinder, die rein genug für seinen Kreuzzug sind.«
Konrad hob die Augenbrauen. »Wer hat dir denn das erzählt?«
»Ist doch egal.« Ich sah sie an, und es war, als fülle sich in mir ein Brunnen, den ich längst versiegt geglaubt hatte.
Es war Hugo, der den Moment zerstörte. »Wir werden mit ihm gehen.«
Ich blinzelte, war unsicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. »Mit wem?«
»Nicolaus natürlich. Wir werden das Heilige Grab befreien.«
Beinahe hätte ich gelacht, doch dann sah ich, wie ernst es ihm und Konrad war. »Ihr könnt doch nicht …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Was ist mit eurer Lehre? Wovon wollt ihr auf der langen Reise leben? Wie …«
»Gott wird für uns sorgen.« Konrad verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Engel hat es Nicolaus versprochen, und Engel lügen nicht.«
Aber Nicolaus vielleicht schon, dachte ich. Doch ich sprach es nicht aus, denn in Wirklichkeit zweifelte ich nicht daran, dass der Junge die Wahrheit sprach.
»Mutter, du hast ihn nicht so oft gehört wie wir«, sagte Konrad. »Seit drei Tagen spricht er vor dem Dom, und jedes Mal kommen mehr Menschen, um ihn zu hören. Unsere Freunde werden gehen, sogar einer der Schreinergesellen. Nicolaus braucht uns. Wir können das Heilige Grab doch nicht den Sarazenen überlassen und …«
Hugo unterbrach ihn. »Deshalb hat Gott uns als Arme in die Welt gebracht. Nicht, damit wir die Felder bestellen und den Tisch von Tuchhändler Salomon reparieren. Sondern damit wir die Christenheit zum Sieg führen. Das ist sein Geschenk an uns.«
Die Worte klangen nicht wie seine eigenen, aber dennoch wahr. Er glaubte sie ebenso wie Konrad und die anderen Kinder, ebenso wie all die Menschen, die auf dem Weg zu den Rheinwiesen waren. Ein klein wenig glaubte ich sie auch.
»Madlen!«
Ich fuhr herum. Hildegard stand an der Dompforte und winkte, und hinter ihr sah ich einige der anderen Pilger. Vater Ignatius löste sich aus der Gruppe und ging auf mich zu. Sein Gesicht wirkte ernst und verkniffen.
Er weiß es, durchfuhr es mich.
»Kommt.« Ich nahm meine Söhne bei den Händen. Hugo zog seine weg, Konrad nicht. Rasch liefen wir hinter den Menschen her, die den Domplatz in Richtung Fluss verließen.
»Warum willst du nicht mit Vater Ignatius reden?«, fragte Hugo.
»Weil ich nicht zurückkann.« Erst als ich den Satz ausgesprochen hörte, wurde mir klar, dass es mir ernst war. Ich konnte mich dem, was in Winetre wartete, nicht stellen, egal, wie falsch und feige das war. Vielleicht lachte der Teufel in der Hölle über meine Entscheidung, aber auch das kümmerte mich nicht. Ich würde nicht zulassen, dass meine Söhne auch noch ihre Mutter verloren.
»Warum nicht?« Konrad warf einen Blick zurück. Ich sah ihm an, dass Vater Ignatius uns folgte.
»Weil ich etwas Schlimmes getan habe.«
»Was denn?«
»Später.«
Die Menge verteilte sich in Seitenstraßen und Gassen. Als Hugo bemerkte, dass ich den Weg nicht kannte, übernahm er die Führung. Er lief durch Hinterhöfe, Werkstätten, winzige Kräutergärten und einmal sogar durch eine Hütte, in der Frauen auf einer Holzbank saßen und Wolle spannen. Sie schienen Fremde gewöhnt zu sein, denn sie sahen nicht auf.
»Er ist weg«, sagte Konrad nach einer Weile.
Ich atmete auf und blieb stehen.
Wir waren am Rande der Stadt angekommen. Die Hütten standen weit auseinander, es gab Felder und Hecken. Ich hörte den Fluss, sah ihn jedoch noch nicht.
»Es ist gleich hier.« Hugo winkte uns zu, aber Konrad zog an meiner Hand, zwang mich, stehen zu bleiben.
»Ich will wissen, was passiert ist.« Er war schon als kleines Kind stur gewesen.
»Und ich werde es dir erzählen, aber nicht jetzt.« Nicht bevor ich die Kraft gefunden hatte, daran zu denken.
Konrad zögerte einen Moment, dann nickte er. »Also gut.«
Es klang wie eine Abmachung zwischen Erwachsenen, und mir wurde klar, dass sein Geist in den zwei Jahren älter geworden war als sein Körper.
Hugo wartete bereits ungeduldig auf uns. »Hier entlang.«
Wir folgten ihm vorbei an einer mannshohen Hecke, dann bog er nach links zum Fluss ab.
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