Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
war bereits so dunkel, dass ich die Überraschung in seinem Gesicht nur erahnen konnte.
Er zog seinen Arm aus meinem Griff. »Nichts.«
Ich hörte die Lüge in diesem einen, kurzen Wort. Vielleicht war der Junge, der vor mir stand und die Arme vor der Brust verschränkte, nicht mehr der Sohn, den ich gekannt hatte, aber ich wusste immer noch, wann er die Unwahrheit sagte.
»Du hetzt alle gegen ihn auf mit den Lügen, die du verbreitest. Wieso …«
»Ich habe nicht gelogen!«, schrie Hugo. Speichel benetzte mein Gesicht. »Alles, was ich sage, ist wahr!«
»Und was sagst du?«
Stille antwortete mir. Ich hörte nur die Geräusche des Kreuzzugs und Hugos schnellen Atem. Eine leichte Brise kam auf und verfing sich im Stoff des Banners.
»Was sagst du?«, fragte ich noch einmal.
Hugo fuhr sich mit der freien Hand über die Augen. »Ich habe …«, begann er, dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann da rüber mit dir nicht reden. Es ist unanständig.«
»Ich habe schon gehört, dass er anders ist.« Es fiel mir schwer, die Worte vor meinem Sohn auszusprechen. Ich spürte, wie sich meine Wangen röteten. »Da unten«, fügte ich schließlich leise hinzu.
Hugo wirkte erleichtert, dass er das nicht selbst hatte sagen müssen. »Ja, genau.«
»Und woher weißt du das?«
»Mutter, bitte.«
»Sag es mir, Hugo. Vorher lasse ich dich nicht gehen.«
Er seufzte. »Dreh dich um«, sagte er dann. »Ich kann dir das nicht erzählen, wenn du mich ansiehst.«
Ich kam seiner Bitte nach und betrachtete statt ihm das Roggenfeld, das sich vor mir im Halbdunkel ausdehnte.
»Vor ein paar Tagen«, sagte Hugo, »hockte ich morgens im Wald hinter ein paar Büschen. Ich hatte wohl etwas Schlechtes gegessen, denn es war schon das dritte Mal an diesem Morgen. Die Büsche waren ziemlich hoch. Durch ihre Blätter sah ich Diego. Er stellte sich direkt vor mir an einen Baum, ohne mich zu bemerken. Und dann sah ich es.«
»Was?«, fragte ich, als er nicht fortfuhr.
Hugo räusperte sich. »Dass er beschnitten ist.«
Ich drehte mich verwirrt um. Das Wort kannte ich nicht. »Dass er was ist?«
Mein Sohn schüttelte den Kopf. »Ich sage es nicht noch mal.«
»Aber ich verstehe nicht, was das heißen soll.« Ich kam mir vor wie ein dummes kleines Mädchen, das etwas fragte, was alle anderen längst begriffen hatten.
»Weißt du das wirklich nicht?« Hugo verdrehte die Augen. Ich sah, wie sehr es ihm gefiel, mir überlegen zu sein.
»Nein.«
»Es heißt, dass er ein verdammter Jude ist.«
Kapitel 14
Ich ging Diego aus dem Weg. Den ganzen Abend saß ich mit Lena und den anderen Mädchen am Feuer oder tat so, als wäre ich in ein Gebet vertieft, wenn ich ihn sah. Am nächsten Morgen suchte ich mir eine große Gruppe und blieb in ihrer Mitte. Zweimal ritt Diego an mir vorbei, ohne mich zu bemerken.
Mir war klar, dass ich die Begegnung mit ihm nur aufschob, doch ich brauchte die Zeit, um darüber nachzudenken, wie ich ihm entgegentreten sollte, wenn es so weit war.
Hugo hatte behauptet, nur Lukas und Nicolaus wüssten von seiner Entdeckung, aber Renates Bemerkungen auf dem Küchenwagen bewiesen, dass das nicht stimmte. Obwohl sich noch nicht herumgesprochen hatte, dass ein Jude in unserer Mitte lebte, kursierten bereits zahlreiche Gerüchte. Früher oder später würde jemand die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
Ich fragte mich, was dann geschehen würde. War es einem Juden verboten, einen christlichen Kreuzzug zu begleiten? Entweihte er ihn durch seine Anwesenheit? Ich kannte die Antwort auf diese Fragen nicht, ebenso wenig wie Nicolaus, der seit Tagen um den Rat des Engels bat. Bisher vergeblich. Ich hoffte, dass der Engel sich erbarmte, bevor ich Diego wieder begegnete. Der Gedanke daran machte mir Angst, mehr als es seine dunkle Haut und seine seltsame Sprache anfangs getan hatten. Auf einmal wirkte er so viel fremder und unheimlicher als zuvor.
Den ganzen Morgen über versuchte ich mich von dem abzulenken, was ich erfahren hatte, doch die Neugier ließ mir keine Ruhe. Es war sündhaft und falsch, mich davon leiten zu lassen, das wusste ich. Später würde ich Gott um Vergebung bitten.
Gottfried hielt sich zusammen mit einigen jungen Männern im vorderen Teil des Kreuzzugs auf. Er bewunderte Nicolaus so sehr, dass er sich bemühte, in seiner Nähe zu bleiben. Nur bis an sein Feuer war er noch nicht vorgestoßen.
Er wandte den Kopf, als er mich bemerkte. »Madlen. Du hast dich rar gemacht in letzter Zeit. Braucht Nicolaus so
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