Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
Sein Blick war klar.
»Die Klinge des Gerechten wird ins Herz des Bösen stoßen …«
Ein Schatten fiel über mich. Ich hob den Kopf, sah Hugo über mir. Das Banner des Kreuzzugs verdeckte sein Gesicht. Einen Arm hatte er ausgestreckt, mit dem anderen holte er aus.
Ich schrie. Diego sprang auf.
Zu spät.
Der Speer schoss durch die Luft, so langsam, dass mein Blick ihm folgen konnte, und doch so schnell, dass mein Schrei erst abbrach, als er sein Ziel traf. Das Lachen des alten Mannes verstummte. Ein Holzschaft ragte aus seiner Brust. Der Wind presste das Banner wie ein Totenhemd gegen seinen Körper. Erschrocken sprangen die Jungen, die ihn festgehalten hatten, zurück.
Der alte Mann stand einen Augenblick da. Er hob eine Hand, schien nach dem Speer greifen zu wollen, doch er ballte nur die Faust in der Luft. Dann kippte er nach vorn, rutschte über den abschüssigen Stein der Brüstung und fiel von der Mauer. Nass und schwer schlug er auf.
Der Speer steckte in seiner Brust. Das Banner senkte sich über seinen Kopf. Noch einmal wurde es vom Wind emporgetragen, dann lag es still.
Die Gesichter verschwanden hinter der Mauer. Nur einer der kleinen Jungen stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach unten zu sehen. Jemand ergriff seine Schulter und stieß ihn weg.
Ich packte Hugos Arme, zog mich an ihnen hoch. Meine Knie zitterten so sehr, dass ich kaum stehen konnte.
»Was hast du getan?« Ich wollte ihm die Worte entgegenschreien, aber ich brachte nur ein Flüstern zustande.
Hugo blinzelte, den Blick auf die Leiche gerichtet. Sein Gesicht war blass. »Was Nicolaus wollte. Ich habe nur getan, was er wollte.« Mit sichtlicher Mühe riss er sich von dem Anblick des Toten los und sah sich um. »Das stimmt doch, oder?«
»Nein.« Nicolaus setzte sich zitternd auf und ergriff seine Hand. »Du hast getan, was der Engel wollte.« Er lächelte. »Du hast nicht gezögert und nicht an dein eigenes Wohl gedacht wie ein wahrer Ritter Gottes. Der Engel wird es dir danken.«
In seinen Worten lag eine solche Ruhe, dass meine Knie aufhörten zu zittern. Ich umarmte Hugo. Er legte seine Arme um mich und drückte den Kopf gegen meine Schulter. »Alles wird gut«, flüsterte er. In diesem Moment glaubte ich ihm.
Als ich ihn schließlich losließ, hockte Lukas bereits neben Nicolaus. Er hatte den Umhang weggezogen und ihm einen Weinschlauch gereicht. Leise sprachen sie miteinander. Lukas wirkte erleichtert, lächelte immer wieder. Nicolaus’ Schweigen musste stärker auf ihm gelastet haben, als mir klar gewesen war. Ich hatte geglaubt, er wäre neidisch auf Nicolaus gewesen, doch nun erkannte ich, dass er wie Petrus war, zufrieden damit, seinem Herrn als Erster unter vielen dienen zu dürfen.
Auch die anderen beruhigten sich zusehends. Die Furcht, die uns alle vor so kurzer Zeit erfasst hatte, verschwand. Ein paar betrachteten die Leiche oder warfen misstrauische Blicke zu der Mauer, doch ängstlich wirkte niemand. Nicolaus war zu uns zurückgekehrt und hatte Worte des Engels übermittelt. Der alte Mann hatte gelogen.
Diego stand einige Schritte von mir entfernt. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete das Kloster.
»Und was jetzt?«, fragte er, als Lukas und Nicolaus ihr Gespräch beendet hatten.
»Jetzt werden sie uns das Tor öffnen.« Lukas half Nicolaus auf die Beine. Hugo stellte sich vor ihn, als wolle er ihn mit seinem Körper schützen.
»Ihr Mönche!«, schrie Lukas. »Ich weiß, dass ihr mich hört! Zeigt euch!«
Er wartete, aber nichts regte sich. »Ihr habt gesehen, wie Gott den Lügner in eurer Mitte niedergestreckt hat. Also lasst uns ein, zeigt uns die Gastfreundschaft, die Kreuzfahrern zusteht, helft unseren Kranken – und nichts wird euch geschehen!« Ich glaubte, Stimmen hinter den Mauern zu hören. Sie verstummten, als Lukas fortfuhr. »Aber wenn ihr uns weiter beleidigt und warten lasst, dann werden für jeden Tag, den wir vor euren Toren verbringen, zehn Mönche sterben, wenn ihr uns denn schließlich doch öffnen müsst, weil euch Wasser und Nahrung ausgehen.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Diego hob die Augenbrauen. Ich fragte mich, ob ihn als Juden der Gedanke, Mönche hinzurichten, irgendwie berührte.
Lukas ging einige Schritte vor und setzte sich auf den Boden. Eine Windböe wirbelte seine Haare hoch. Das Banner, das die Leiche des alten Mannes bedeckte, hob sich. Es sah aus, als wolle er sich aufrichten, so wie es Lazarus getan hatte. Der Gedanke ließ mich
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