Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
Lukas sah Nicolaus an, doch der reagierte nicht. Hugo begann das Banner an seinem Speer zu schwenken.
Lukas formte die Hände vor dem Mund zu einem Trichter. »Wir sind Kreuzfahrer!«, rief er, und seine Stimme hallte über den Hügel. »Wir begehren Einlass im Namen des Herrn!«
Einige Gesichter tauchten über der Mauer auf. Niemand antwortete.
Ich sah mich um. Die Jungen, die neben mir standen, wirkten ratlos. Einige hoben die Schultern. Ein paar setzten sich an den Wegesrand, so als wäre ihnen klar, dass es so bald nicht weiter gehen würde.
Diego führte sein Pferd an ihnen vorbei. Unsere Blicke trafen sich einen Moment, aber ich sah weg, bevor er mich grüßen konnte. Ich hörte, wie Dreck und kleine Steine unter seinen Stiefeln knirschten, dann Stille.
Ich sah auf. Diego war neben Lukas stehen geblieben und legte die Hände an den Mund, so wie der es zuvor getan hatte. Er rief Worte in einer Sprache, die ich nicht verstand, die mir aber zugleich auch seltsam vertraut erschien.
»Das ist Latein«, sagte Gottfried ein Stück hinter mir.
Gern hätte ich ihn gefragt, ob das eine Sprache war, die auch Juden beherrschten, doch ich fürchtete mich vor der Antwort.
Wir warteten, den Blick auf die Mauern gerichtet. Diego rief erneut etwas, dann wiederholte auch Lukas seine Worte. Nichts geschah.
»Vielleicht haben sie ein Schweigegelübde abgelegt«, sagte jemand.
»Dann könnten sie trotzdem das Tor aufmachen, oder?«, entgegnete ein anderer. Auch andere Stimmen wurden laut. Sie schwankten zwischen Verwirrung und Ärger.
»Wir haben Kranke dabei, die eure Hilfe brauchen!«, rief Lukas. Er klang beinahe verzweifelt.
Nicolaus stand reglos neben ihm. Nur das Hemd, was er trug, bewegte sich. Er schien zu zittern.
Plötzlich geriet Bewegung in die Mönche auf der Mauer. Sie machten einem grauhaarigen, dicken Mann Platz, der sich schwer auf die Schultern zweier kleiner Jungen stützte. An den Zinnen blieb er stehen. Seine Kutte war prächtiger als die der anderen. Der Hut, den er trug, wirkte beinahe wie eine Krone.
»Ihr werdet hier keine Hilfe finden!«, rief er. Sein Dialekt war kaum zu verstehen. Hinter mir fragten einige nach, was er gesagt hatte.
»Wir sind Kreuzfah…«, begann Lukas, aber der alte Mann ließ ihn nicht ausreden.
»Ketzer seid ihr! Denkt ihr, wir wissen nicht, was ihr Gesindel so treibt?« Er legte die Hände auf die Mauerbrüstung. Die Jungen hielten ihn an den Hüften fest. »Ihr feiert Messen ohne Priester, haltet Gericht und nehmt euch gegenseitig die Beichte ab!« Mit jedem Wort schien er wütender zu werden. »Kein anständiger Christ würde euch auch nur einen Schluck Wasser geben. Da könnte er ja gleich dem Teufel die Hand schütteln!« Wie ein Prediger auf der Kanzel, der vor den sieben Todsünden warnt, schrie er auf uns ein. Ich hörte kleine Kinder weinen. Erwachsene starrten den Mönch mit offenem Mund an. Lukas versuchte ihn immer wieder zu unterbrechen, aber es gelang ihm nicht. »Selbst der Papst weiß schon davon! Die heilige Inquisition wird er bestellen, um mit euch aufzuräumen. Brennen werdet ihr Ketzer, brennen!«
Nicolaus brach zusammen. Menschen schrien auf. Lukas ging neben ihm in die Knie.
Ich bahnte mir einen Weg nach vorn, nahm meinen Umhang ab und versuchte den zuckenden, um sich schlagenden Jungen darin einzuwickeln, denn ich hatte Angst, dass er sich sonst verletzte. Dass Diego mir half, bemerkte ich erst, als seine dunkle Hand meine berührte.
Gemeinsam gelang es uns, Nicolaus in den Stoff einzuschlagen. Er bäumte sich auf. Weißer Schaum quoll ihm aus dem Mund. Die Adern an seinem Hals standen so weit vor, dass ich dachte, sie müssten platzen. Die Augen waren vollkommen weiß. Ihr Anblick war so verstörend, dass ich nicht hinsehen konnte.
»Da!«, schrie der Mann auf der Mauer in das Chaos. »Seht doch, wie sich der Teufel den Ersten von euch holt!«
Laut und krächzend begann er zu lachen.
Nicolaus zuckte unter mir. Schaum lief ihm übers Kinn. Ich hielt ihn mit aller Kraft fest. Diego umarmte ihn, versuchte ihn davon abzuhalten, sich aus dem Umhang zu befreien. Ich hörte Lukas seinen Namen schreien und Gott um Hilfe anflehen. Menschen fielen auf die Knie, die Hände zum Himmel gestreckt. Die Mönche johlten, der alte Mann lachte.
»Seht hin, Ketzer!«, schrie er. »Der Teufel ist unter euch!«
Nicolaus erschlaffte. Es geschah so plötzlich, dass ich beinahe auf ihn gestürzt wäre. Ich fing mich im letzten Moment.
Nicolaus sah mich an.
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