Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
Szene gesetzten akustischen Räume. Die folgende Besprechung bezieht sich nicht auf die WDR-Lesung, sondern auf das Originalhörspiel, das im Internet nachzuhören ist.
Der eine oder andere unter den Lesern erinnert sich vielleicht an Elephant , einen Film von Gus Van Sant aus dem Jahr 2003, der einen Amoklauf in Anlehnung an das Massaker an der Columbine Highschool schildert. Das Besondere an diesem Film: Er spekuliert nicht über mögliche Ursachen, sondern schildert mit ganz unspektakulären und gerade deshalb umso beunruhigenderen Bildern die fatale Zwangsläufigkeit, mit der sich die am Ende stehende Bluttat aus dem scheinbar ganz normalen Schulalltag herauskristallisiert, und er lässt den Zuschauer auf der vergeblichen Suche nach einer nachvollziehbaren Motivation folgerichtig ratlos, aber nachdenklich zurück. Mit diesem Film ist das Hörspiel Reset am Ehesten vergleichbar, auch wenn die Brüder Dröge ansonsten ganz eigene Wege gegangen sind.
Der Gymnasiast Philip sitzt morgens, bevor er in die Schule geht, beim Frühstück und hat das unbestimmte Gefühl, von einer Person hinter ihm beobachtet zu werden, obwohl seine Mutter den Fremden gar nicht wahrzunehmen scheint. Der Kerl spricht ihn an und erklärt, Philip sei ein Amokläufer; am letzten Schultag vor dem Abitur habe er, mit einer Beretta 9 mm und einem Messer bewaffnet, scheinbar wahllos und kaltblütig neun seiner Mitschüler sowie zwei Lehrer umgebracht und sich danach an einem Treppengeländer erhängt. Philip ist erst in der Mittelstufe, das Abitur liegt noch in weiter Ferne, und doch kann er gar nicht anders, als dem Fremden zu glauben, der ihm eröffnet, dass nichts um ihn herum real sei, nicht einmal Philip selbst. Er ist nichts als eine Computersimulation, die nach seinem Tod aus den Erinnerungen seines unversehrt gebliebenen Gehirns generiert wurde. Die Simulation, die mit »Reset« beliebig oft und an beliebigen Zeitpunkten seines Lebens neu gestartet werden kann, soll im Rahmen kriminalpsychologischer Grundlagenforschung über den Ablauf der Tat Aufschluss geben und seine Gedanken und Beweggründe bis ins Detail so exakt wie möglich rekonstruieren, um zu analysieren, welche Prozesse Auslöser einer derartigen Tragödie sein können.
Fortan ist Philip nie mehr allein. Auch in den intimsten Momenten seines Lebens ist jemand da, der ihn beobachtet. Vor allem aber muss er wieder und immer wieder aufs Neue seinen Amoklauf durchleben, von dem Moment an, an dem seine Vorstellung endgültig in einen Vorsatz umschlug, bis zu seinem Tod, mit dem die jeweilige Simulation abrupt endet. Der Satz, die menschliche Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, gewinnt für ihn eine makabre Bedeutung: Eine Besonderheit im Versuchsaufbau, die sein Zeitempfinden und damit seine Erinnerungen auch über das Reset hinaus, gleich einem Déjà-vu, bruchstückhaft fortbestehen lässt, erlaubt ihm, seine eigene Situation zu reflektieren. Sind autonome Reaktionen denkbar, die über den determinierten Programmablauf hinausgehen? Ist ein virtuelles Konstrukt fähig, aus der Simulation auszubrechen? Was wäre, wenn er sich an jenem letzten Tag anders entschiede? Wenn er die Schule links liegen und ans Meer fahren würde? Es zeigt sich, dass das Programm einem solchen Ausbruchsversuch nicht gewachsen ist. Es stürzt ab.
Die Ernsthaftigkeit, mit der sich die Gebrüder Dröge einem ganzen Bündel an Themen widmen, geht weit über das hinaus, was man von einer Autorenproduktionen erwarten würde. Und dabei ist Reset alles andere als dröge oder didaktisch, sondern ausgesprochen spannend und macht neugierig auf den Fortgang der Handlung. Da ist zum einen das Thema des Amoklaufs und die Frage des Motivs, auf die es selten eine einfache und schon gar keine befriedigende Antwort gibt. Erfreulicherweise haben die Autoren sich gehütet, wohlfeile Antworten zu geben. Vielmehr lassen sie unaufdringlich, wie nebenbei, anklingen, dass es viele Punkte gibt, an denen Lebenswege sich gabeln, und es sehr marginale Gründe sein können, die die Entscheidung für den einen oder den anderen Weg beeinflussen, für die Bluttat oder für das Leben. Zum anderen machen die Autoren uns bewusst, dass es »das Böse« schlechthin nicht gibt, dass die Ursachen für Scheitern und fatale Fehlentscheidungen in einer Vielzahl von Erfahrungen wie Erwartungsdruck, Vorurteilen, Herabsetzungen, Ausgrenzungen, Geringschätzung und Kränkungen gesucht werden
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