Das sechste Herz
auf einmal alle von dem Mann wollten. Wulf Geroldsen habe vor zwei Tagen eine Sozialwohnung zugewiesen bekommen und richte sich jetzt dort gerade häuslich ein. Und nein, die Adresse würde sie ihnen nicht geben. Da könnte ja jeder kommen. Zu guter Letzt hatte es Jos gesamte Überredungskunst gekostet, die Leiterin zu überzeugen, Laras Kärtchen anzunehmen und es beim nächsten Treffen mit Wulf Geroldsen mit der Bitte um Rückruf an ihn weiterzugeben.
Lara hörte Jos Auto, bevor sie es sah. Der Honda röchelte und stotterte asthmatisch, lange würde er es bestimmt nicht mehr machen. Da ihr Mini jedoch bis Montag zur Wartung in der Werkstatt war, würden sie sich wohl oder übel auf die Klapperkiste verlassen müssen.
Jo kurvte an den Straßenrand und spritzte eine Matschfontäne auf den Gehweg. Dann beugte er sich zur Beifahrerseite, stieß die Tür auf und rief: »Sorry, nur rote Ampeln! Steig ein!«
Lara warf ihre Jacke auf die Rückbank, ließ sich auf den vorderen Sitz plumpsen, und noch ehe sie sich angegurtet hatte, preschte Jo auch schon los.
»Doktor French?«
Die Frau an dem Bistrotisch blickte auf. Die feinen blonden Haare trug sie zu einem locker gedrehten Dutt, aus dem an den Seiten ein paar Strähnchen heraushingen. Agnes French glich einem Püppchen. Einer blonden Barbie mit Stupsnase und graublauen Kulleraugen. Die gerade die beiden Besucher gründlich abcheckten. Lara hatte das Gefühl, geröntgt zu werden.
Nur das graue Twinset und die Perlenkette verdarben den mädchenhaften Eindruck. Im Näherkommen entdeckte Lara auch ein paar Fältchen rund um die Augenpartie und in den Mundwinkeln und korrigierte ihre Alterseinschätzung von Anfang dreißig auf Anfang vierzig.
»Sie sind Frau Birkenfeld? Bitte nehmen Sie Platz.« Mit einer hoheitsvollen Geste wies Agnes French auf den Stuhl neben sich. »Und das ist sicher Ihr Kollege, Herr Selbig.« Lara hängte ihre Tasche über die Lehne und setzte sich. Einen Händedruck schien die Frau vermeiden zu wollen, jedenfalls machte sie keine Anstalten dazu. Die Finger der Rechten berührten den Henkel des Teeglases, die Linke lag flach auf der Tischplatte.
»Sie sind etwas zu spät.« Die kleine Ermahnung hatte sie sich wohl nicht verkneifen können. Hinter dem mädchenhaften Äußeren steckte eine knallharte Businessfrau. Aber wie sonst käme jemand wohl jeden Tag mit Mördern, die auch noch psychisch schwer gestört waren, zurecht?
»Ich habe leider nicht allzu viel Zeit. Ein Termin.« Agnes French deutete auf den Tisch, wo ein großes flaches Smartphone demonstrativ neben der Teekanne lag.
»Auf der A9 war ein Stau.« Jo zog den Stuhl heraus und setzte sich. Lara schob die Hand in die Tasche, prüfte, ob das Diktiergerät eingeschaltet war, und zog zur Tarnung eine Packung Tempotaschentücher hervor.
»Wollen Sie etwas trinken? Ich kann den Kräutertee empfehlen.«
Eigentlich wollte Lara keinen Tee. In den letzten Tagen hatte sie schon viel zu viel davon in sich hineingeschüttet. Sie schüttelte den Kopf, sah Jo an und gab ihm mit den Augen ein Zeichen anzufangen. Sie hatten auf der Fahrt ausgemacht, dass er die Fragen stellen sollte und Lara zuhörte.
»Im Moment nicht, danke. Lassen Sie uns gleich zur Sache kommen, bevor Sie wegmüssen.« Er machte eine kurze Pause und winkte der sich nähernden Kellnerin ab. »Mark Grünthal ist in U-Haft.«
»Davon habe ich gehört.«
»Wir glauben daran, dass er unschuldig ist, und wollen ihm helfen.«
»Was kann ich dabei tun?« Agnes French hob die Tasse und trank einen kleinen Schluck. Ihre Fingernägel waren kurz geschnitten und sauber manikürt. Dass sie auch an Marks Unschuld glaubte, sagte sie nicht. Lara ließ den Blick zu ihrer Kette gleiten. Die Perlen hatten einen grausilbernen Schimmer, und zwischen jeder war ein winziger Knoten. Das Ding war echt.
»Tja, das wissen wir auch nicht so recht. Wir fischen ein bisschen im Trüben, aber jeder Hinweis könnte nützlich sein.« Jo hatte sich also für die »Bitte helfen Sie uns«-Tour entschieden. In Anbetracht der förmlichen Art dieser Frau war das wahrscheinlich die richtige Vorgehensweise.
»Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, befinde ich mich in einem Zwiespalt, Herr Selbig. Ich möchte Doktor Grünthal gern beistehen, sehe jedoch nicht wie. Hinzu kommt, dass ich natürlich keine Interna ausplaudern darf und kann. Was haben Sie denn bis jetzt herausgefunden?«
Jo begann, im Telegrammstil die Ereignisse der letzten Wochen
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