Das sechste Herz
wecken, entschied sich dann aber dagegen, tappte barfuß aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Wenn er noch eine Weile schlief, würde sie in Ruhe ihren nächsten Artikel schreiben und abschicken können. Gestern Abend hatte er vor dem Einschlafen etwas von einem freien Vormittag gemurmelt. Sollte er sich also ausschlafen.
Fast hätte sie über dem Brodeln des Wasserkochers das Klingeln ihres Handys überhört. Lara stolperte über die Schnur des Ladegerätes, stützte sich mit der Rechten an der Spüle ab und hob ab. Im Display stand »Unbekannt«. Die Stimme am anderen Ende klang sonor.
»Spreche ich mit Lara Birkenfeld? Mein Name ist Fichte. Ich bin Rechtsanwalt für Strafrecht. Doktor Grünthal hat mich gebeten, Sie anzurufen.«
»Wie … Rechtsanwalt? Was ist denn los?« Lara sah, wie Jo mit zerstrubbelten Haaren, die Boxershorts nachlässig hochgezogen, in die Küche schlurfte, und legte den Zeigefinger auf den Mund.
»Doktor Grünthal befindet sich seit gestern Abend in Untersuchungshaft, und ich bin mit seiner Vertretung beauftragt. Wie ich eben schon sagte, hat er mich gebeten, Sie zu informieren.«
»Aber, was wirft man ihm denn vor?« Lara schaffte es nicht, den Lautsprecher des Mobiltelefons anzustellen. Jo hatte sich vor sie hingestellt und versuchte, den Sinn des Gesprächs zu erfassen.
»Darüber kann ich leider ohne das Einverständnis meines Mandanten nicht sprechen. Schon gar nicht am Telefon.«
»Hören Sie, wenn er in Untersuchungshaft sitzt, muss die Polizei augenscheinlich ernsthafte Gründe dafür haben! Man kann jemanden doch nicht einfach so einsperren!« Bei dem Wort »Untersuchungshaft« hatte Jo aufgehorcht, suchte jetzt nach Stift und Zettel und legte beides vor Lara auf den Küchentisch, wobei er die Geste des Aufschreibens machte. Sie nickte und setzte sich, während der Rechtsanwalt ihr etwas von einem Untersuchungshaftbefehl für dringend verdächtige Beschuldigte und Haftgründen wie Fluchtgefahr, Verdunklungsgefahr oder Wiederholungsgefahr erzählte.
»Das ist doch nicht Ihr Ernst! Flucht- oder Wiederholungsgefahr? Das ist so absurd, dass ich lachen muss!« Lara lachte nicht, sondern schlug sich mit der Faust an die Stirn.
»Ich habe nicht gesagt, dass diese Gründe bei Doktor Grünthal vorliegen, sondern nur erläutert, welche Haftgründe es generell gibt. Grundsätzlich ist es so, dass das Gesetz es bei bestimmten, schwerwiegenden Straftaten wie Mord oder Totschlag auch ohne Vorliegen eines der eben genannten Haftgründe erlaubt, die Untersuchungshaft anzuordnen. Man nennt das absolute Haftgründe.«
»Das heißt also, Mark sitzt wegen Mordes in U-Haft?«
»Das ist Ihre Schlussfolgerung, Frau Birkenfeld. Die so nicht stimmt. Nehmen wir einmal an, Doktor Grünthal wurde tatsächlich wegen Mordverdachts verhaftet, so ist er zuerst einmal lediglich der Tat verdächtig . Das heißt nicht, dass er sie begangen hat. Es gilt grundsätzlich die Unschuldsvermutung, auch für die Staatsanwaltschaft. Im Moment sind wir dabei, die Unterlagen zu sichten und die Fakten zusammenzutragen.«
»Das glaub ich alles nicht …« Lara betrachtete den gelben Zettel vor sich, auf den sie mit verwackelten Buchstaben »Mord oder Totschlag« und »absolute Haftgründe« geschrieben hatte. Wenn die Unschuldsvermutung galt – wieso hatten sie Mark dann eingesperrt?
»Kann ich mit ihm sprechen?«
»Das ist leider momentan nicht möglich. Weswegen ich Sie aber angerufen habe ist, dass Doktor Grünthal mich gebeten hat, Ihnen folgende Information zukommen zu lassen. Haben Sie etwas zum Schreiben?« Er diktierte Lara zwei Punkte: Sie sollten Geroldsens Vater Wulf im Obdachlosenheim Haus Strohhalm in Berlin aufsuchen und ihn fragen, wer etwas über den Therapeuten seines Sohnes wissen könnte. Außerdem sollten sie Nachforschungen zu einem entwichenen Straftäter namens André Mann anstellen. Mann sei laut Angaben seines Mandanten in Obersprung gewesen und könnte Kontakt zu Geroldsen gehabt haben. »Haben Sie das?« Lara bejahte, und er fuhr fort. »Doktor Grünthal erhofft sich davon, dass Sie dabei Entlastungsgründe für ihn finden. Sie können mich gern jederzeit wieder anrufen, sobald Sie etwas herausfinden. Sollte ich nicht zu erreichen sein, hinterlassen Sie meiner Sekretärin eine Nachricht.« Er gab seine Büro- und Handynummer durch und versicherte Lara, dass er Mark grüßen und ihm ihre absolute Loyalität ausrichten werde. Dann verabschiedete er sich.
»Hast du alles
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