Das sechste Herz
großen Grundstück besaß, abseits der Hauptverkehrsstraßen, dicht am Wald. Wahrscheinlich würde sie demnächst wieder hier aufkreuzen – wenn er nicht da war – und herumschnüffeln. Es gab zwar nichts Auffälliges zu finden, darauf achtete er peinlichst, aber man konnte ja nie wissen.
Wie lange fuhr sie ihm eigentlich schon nach? War dies womöglich nicht ihr erster Besuch hier draußen? Hatte sie ihn vielleicht sogar letztens dabei beobachtet, wie er den selbstgemachten »Rindenmulch« im Garten verteilte?
Frank Studer atmete tief ein und aus. Es gab nur eine Alternative. Lisa musste weg und zwar schnell, ehe sie jemandem von ihren Beobachtungen berichten konnte. Er konnte der Stimme anbieten, sie zu schlachten wie die Herzspender vor ihr. Aber wäre das nicht zu gefährlich, weil dann jemand ihn mit ihr in Verbindung bringen könnte? Andererseits – wenn er sich vorstellte, wie ihr Herz aussehen und panisch in der Brust herumzappeln würde, während er es herausschnitt, wurde ihm heiß.
Er musste handeln. Schnell. Wenn die Stimme ihm nicht half, würde er selbst eine Entscheidung treffen müssen. Aber lieber hätte er um Rat gefragt. Frank Studer starrte in die Dunkelheit und dachte darüber nach, was die Stimme an seiner Stelle getan hätte. Das Schrillen seines Handys ließ ihn zusammenzucken. Niemand kannte diese Nummer. Niemand außer … Er atmete auf und nahm den Hörer ab.
21
Mark verabschiedete sich von Leon Malz. Sein Patient war heute unaufmerksam gewesen, hatte abwesend gewirkt und sich nicht konzentrieren können. Die Insassen im Maßregelvollzug hatten gute und schlechte Tage – wie jeder Mensch. Hinzu kamen die Medikamente. In Leon Malz’ Akte hatte gestanden, dass er in den vorangegangenen Tagen sehr unruhig gewesen war und nachts zweimal randaliert und Mobiliar zerstört hatte. Man hatte körperliche Gewalt anwenden müssen. Der zuständige Stationsarzt hatte vorhin auf dem Gang seinem Unmut darüber Luft gemacht, dass manche Patienten sich gegen die Medikation wehrten.
Mark ließ sich die Schleuse öffnen und trat auf den Innenhof hinaus. Heute schien keine Sonne. Die wuchtigen grauen Wolken, die tief am Himmel hingen, entzogen der Umgebung alle Farben. Sogar die sonst so tiefroten Dächer der Eingangsgebäude wirkten in diesem diffusen Licht schmutzig braun. Schneematsch bedeckte den Weg. Mark teilte die Meinung des Stationsarztes. Eine »Zwangsbehandlung zur Abwendung von Gefahren für Leib und Gesundheit von Mitpatienten oder Pflegepersonal« ließ das Maßregelvollzugsgesetz nicht zu. Es existierten Gerichtsurteile, die besagten, dass die Patienten ein »Recht zur Krankheit« hatten. Erst vorletztes Jahr hatte ein wegen Kindesmissbrauchs verurteilter Straftäter vor dem Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde gegen eine ihm angekündigte Zwangsbehandlung eingereicht. Der Betreffende war seit 2005 wegen einer multiplen Störung der Sexualpräferenz mit kombinierter Persönlichkeitsstörung im Maßregelvollzug untergebracht worden. Die Klinik hatte ihm mitgeteilt, ihn mit dem Neuroleptikum Abilify – wenn nötig auch gegen seinen Willen – behandeln zu wollen.
»Gegen seinen Willen« hieß, dass man den Patienten fesseln musste, um die Injektionen zu verabreichen. Der Kläger hatte argumentiert, die geplante Verabreichung verstoße gegen sein allgemeines Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht und sei medizinisch nicht indiziert. Daraufhin untersagte die Strafvollstreckungskammer der Klinik die Gabe von Neuroleptika und holte ein Gutachten ein.
Nach langem Hin und Her war der Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden. Das Bundesverfassungsgericht hatte argumentiert, dass Betroffene diejenigen Untersuchungs- und Heilmaßnahmen zu dulden hatten, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst erforderlich waren. Die angekündigte medizinische Zwangsbehandlung jedoch greife in das Grundrecht des Betroffenen auf körperliche Unversehrtheit und in sein Selbstbestimmungsrecht ein.
Mark sah nach oben. Aus dem bleiernen Himmel segelten erste eiskalte Tropfen herab und benetzten sein Gesicht. Er lief schneller. Das Verbot einer Behandlung gegen den Willen des Maßregelvollzugspatienten führte dazu, dass Therapeuten und Pflegende gezwungen wurden, sich mit gewalttätigen Menschen körperlich auseinanderzusetzen. Leon Malz hatte randaliert und gedroht, andere zu verletzen. Man hatte ihn gewaltsam in sein Zimmer zurückbringen müssen, wo er weiter gewütet hatte. Zudem grenzte
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