Das sechste Herz
klingt das nicht, eher nach einem Bewunderer, jemandem, dem Geroldsen am Herzen liegt. Wer könnte denn ein Interesse daran haben, ihn reinzuwaschen? Mitinsassen, die er irgendwie eingewickelt hat? Familienmitglieder? Seine drei Geschwister hat er ja eigenhändig umgebracht.« Jo redete schneller. »Mutter und Vater? Ist es vorstellbar, dass sie ihm die grausige Tat verziehen haben und ihn frei sehen wollen?«
»Die Mutter ist inzwischen gestorben, glaube ich irgendwo gelesen zu haben. Selbstmord, meine ich.«
»Was ist mit dem Vater? Der lebt doch noch? Kommen wir an den ran? Mark hat doch damals das Gutachten über Geroldsen geschrieben, nicht wahr? Also muss er Kontakt mit der Familie gehabt haben.«
»Nicht zwangsläufig. Es ist nicht gesagt, dass die Angehörigen von Straftätern mit den Gutachtern kooperieren.« Lara musterte Jos Gesicht. Es war leicht gerötet. Das Thema schien ihn mehr und mehr in seinen Bann zu ziehen.
»Könnte Mark nicht mal nachforschen?«
»Ich fürchte, wir nehmen ihn damit zu sehr in Anspruch. Lassen wir ihm doch erst einmal Zeit, die Akte aus Obersprung zu lesen.«
Jo seufzte und sah zu ihr herüber. »Na gut.« Er zog die Tastatur zu sich heran und ließ den Text verschwinden. »Ich bin ein schlechter Gastgeber. Möchtest du noch etwas trinken?« Sie bejahte, und er machte sich auf den Weg in die Küche. Lara blieb sitzen und betrachtete die großformatigen Fotos an der Wand hinter Jos Schreibtisch. Landschaftsaufnahmen und Detailansichten von Pflanzen. Menschen waren nirgends zu sehen.
»Ich habe übrigens alle Fotos von Patrick noch einmal durchgecheckt.« Jo stellte den Saft auf die Schreibtischkante, ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen und tippte. Fenster poppten auf und schlossen sich wieder. »Auf zweien ist mir etwas aufgefallen.« Lara rückte dichter an ihn heran, während er ein Bild vergrößerte.
»Der helle Streifen links gehört zum Palmenhaus. Und nun schau mal auf den Strauch am rechten Rand.« Er zoomte die nackten Äste noch etwas weiter heran. »Rechts von der Mitte.«
Lara starrte auf das schieferfarbene Gewirr und schüttelte dann den Kopf. »Ich kann da nichts erkennen.«
»Moment. Dann verkleinere ich es wieder etwas.«
Die Pixel fügten sich wieder zu Zweigen zusammen, und jetzt sah sie auch, was Jo aufgefallen war: ein dunkelgraues Viereck inmitten der Äste. »Sieht aus wie ein Nistkasten.«
»Könnte aber auch eine dieser Kameras sein. Betrachte noch einmal das gesamte Bild.« In schwindelerregender Geschwindigkeit schrumpfte das Foto wieder auf Normalgröße zusammen, links tauchte der Kubus des Palmenhauses mit dem weißen Kiesweg auf, daneben die blattlosen Äste der Sträucher vor den grauen Stämmen der Buchen. »Wer hängt denn einen Nistkasten in nicht mal zwei Metern Höhe in einen Strauch?«
»Das ist ein Argument.« Lara lehnte sich ein bisschen zurück und kniff die Lider leicht zusammen.
»Hier ist noch ein zweites Foto, auf dem das Ding zu sehen ist.« Im Schnelldurchlauf ratterten fünf Bilder durch, dann erschien eine Aufnahme des Palmenhauses von der Seite. Die vermeintliche Kamera war jetzt als dunkler Schatten im Gesträuch zu sehen.
»Sehr vage, das Ganze.« Lara fröstelte. »Ist das Gebiet noch abgesperrt?«
»Ich glaube nicht. Das vierte Herz ist letzten Donnerstag, also vor fünf Tagen, gefunden worden. Die Spurensicherung müsste damit durch sein.«
»Ob die das Ding entdeckt haben?«
»Ich denke schon. Nach dem Fund der Kameras auf dem Gelände des VEB Metallwaren mussten sie doch davon ausgehen, dass im Kees’schen Park womöglich auch welche installiert waren. Wollen wir morgen früh mal nachsehen?« Jo grinste spitzbübisch. »Jetzt ist es zu spät, und im Dunkeln erkennen wir eh nichts.«
»Ich weiß nicht recht. Was, wenn die Spurensicherung die Kamera tatsächlich übersehen hat und sie noch im Strauch hängt?«
»Dann könnten wir danach immer noch bei der Kripo anrufen und ihnen einen anonymen Tipp geben. Du schreibst doch eine Artikelserie über den Fall, oder?« Er wartete, bis Lara genickt hatte, ehe er fortsetzte. »Ich könnte für dich ein paar Fotos vom Fundort machen, mit denen du deinen Beitrag illustrieren kannst.«
»Das ist eine gute Idee. Wir beide sind wie Miss Marple und Mister Stringer. Nur nicht so alt.« Lara grinste in sich hinein, als das Bild der beiden Hobbydetektive vor ihrem inneren Auge erschien.
»Also ist es gebongt? Wir fahren morgen gleich nach dem Frühstück nach
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