Das sechste Herz
das Verbot der Zwangsbehandlung Menschen langfristig aus der Gesellschaft aus, da sie nicht bereit waren, sich therapieren zu lassen, und so länger im Maßregelvollzug bleiben mussten. Die behandelnden Ärzte kamen außerdem in einen Gewissenskonflikt zwischen unterlassener Hilfeleistung und rechtswidriger Zwangsbehandlung.
Leon Malz hatte eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie. Er war Marks Ansicht nach gar nicht in der Lage zu erkennen, dass ihm die Medikamente helfen konnten. Malz’ Wahnideen gaukelten ihm vor, dass das Klinikpersonal ihn verfolgte und bedrohte. Die angekündigte Verabreichung von Medikamenten oder Injektionen bestätigte seine Paranoia.
Das Dilemma ließ sich im Augenblick nicht lösen. Nicht für Leon Malz, nicht für andere Patienten mit ähnlichen Diagnosen, nicht für die behandelnden Ärzte.
Noch ehe er angekommen war, wurde die Tür des Verwaltungsgebäudes geöffnet. Agnes schaute ihm im Schutz der Überdachung entgegen. Heute trug sie einen Pferdeschwanz. Mark lächelte und streckte die Hand aus. »Das ist vielleicht ein Wetter! Ich wünschte, es gäbe einen großen Knall und der Frühling wäre da.«
»Da kann ich leider nichts machen. Möchtest du dich mit einem heißen Tee trösten?« Agnes verschloss die Tür hinter ihm.
Warme Luft, die nach Pfefferminz duftete, umfing Mark im Zimmer der Kollegin. Sie musste gesehen haben, wie er mit dem begleitenden Beamten über den Hof gelaufen war, denn der Tee war schon aufgebrüht. Zartgrün leuchtete die Flüssigkeit in der bauchigen Glaskanne.
»Da wären wir wieder.« Mark hängte den Mantel auf einen Bügel, setzte sich und strich die Hose glatt. »Das ist eine liebgewordene Tradition.«
»Du hast recht.« Agnes rührte Kandis in ihren Tee. Nachdem sie zehn Minuten Small Talk gemacht hatten, kam Mark zur Sache.
»Erinnerst du dich noch an unser Gespräch letzte Woche?«
Agnes nickte unmerklich. »Na klar doch. Magnus Geroldsen.«
»Hast du mal in seine Patientenakte geschaut?«
»Ausgiebig. Mich plagt zwar noch immer das schlechte Gewissen, aber ich habe es tatsächlich getan. Ich habe sogar Teile kopiert. Wenn du mich deswegen anschwärzt, bin ich geliefert.«
»Ich bin dir sehr dankbar. Wirklich. Keine Angst, das erfährt niemand. Von Sanktionen wäre ich ja auch selbst betroffen.«
»Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Jedenfalls muss ich so nicht alles erzählen, und du kannst es in Ruhe nachlesen.« Agnes war zu ihrem Schreibtisch gegangen und kehrte nun mit einer hellblauen Mappe, auf der in Druckbuchstaben »M. G.« stand, zurück. »Leider kam Frieder gerade dazu, als ich am Kopierer stand.«
»Hat er …?«
»Ich glaube nicht. Aber dieser Mann besitzt einen siebten Sinn, was seine Person angeht. Es ist ihm sofort aufgefallen, dass ich eine Patientenakte am Wickel hatte. Und natürlich war er neugierig, womit ich mich da befasse.«
»Wahrscheinlich denkt Doktor Solomon, dass du ihn kontrollieren willst.«
»Das ist anzunehmen. Ich habe ein bisschen herumgestottert.« Agnes pustete auf die Oberfläche ihres Tees, obwohl dieser nicht mehr sehr heiß war, und zuckte die Schultern. »Er wird es irgendwann vergessen.«
Mark betrachtete die blaue Mappe. Frieder Solomon würde den Vorfall nicht vergessen. Der Klinikchef war ein Egomane. In Fachkreisen war sein Bestreben, stets im Mittelpunkt zu stehen, bekannt. Der Arzt interpretierte fast alle Abläufe ichbezogen, nahm Bedürfnisse anderer nicht wahr und nutzte jede Gelegenheit, sich auf Kosten der Kollegen zu profilieren. Das Dumme war leider, dass er zugleich auch charismatisch und eloquent war, und genau diese Eigenschaften hatten Solomon den Weg auf der Karriereleiter geebnet. Mark sah nach draußen und hoffte wider besseres Wissen, dass Agnes mit ihrer Vermutung recht behalten würde.
Er deutete auf den Tisch. »Ich bin dir jedenfalls sehr zu Dank verpflichtet.«
»Keine Ursache. Vielleicht brauche ich deine Hilfe auch mal. Gibt es denn Neuigkeiten im Fall dieser Herzen? Ich bin abends immer so kaputt, dass ich es nicht schaffe, die Nachrichten zu sehen.«
Mark gab der Kollegin eine Zusammenfassung der letzten Ereignisse. Während er gerade vom Fund des vierten Herzens berichtete, klingelte sein Handy. Agnes begann den Tisch abzuräumen, während Mark seiner Sprechstundenhilfe zuhörte.
»Etwas Dringendes?« Sie stand dicht vor ihm und lächelte. Ihr Pferdeschwanz wippte leicht, während sie den Kopf neigte.
»Annemarie hat gefragt, ob ich heute
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