Das sechste Herz
Nachmittag noch einmal in die Praxis komme. Eigentlich standen für heute keine Termine auf dem Plan, aber anscheinend hat einer meiner Patienten ein akutes Problem. Ich muss los.«
»Wir waren doch eh fertig.« Sie berührte seinen Arm und ging dann, um seinen Mantel zu holen. Auf dem Weg nach draußen schien ihr noch etwas einzufallen. Sie hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich um. »Du wolltest doch wissen, was mit diesem entwichenen Patienten ist?«
Mark klemmte die Mappe mit der Geroldsen-Akte unter den Arm und schickte sich an, ihr zu folgen. Den entflohenen Straftäter hatte er ganz vergessen. »Richtig.«
»F 65.6 nach ICD -10. Mehrfache Straftaten mit mehreren Opfern, wiederholte Verurteilungen. Die Gutachter haben ihm ein hohes Gefährdungspotenzial mit Wiederholungswahrscheinlichkeit bescheinigt.«
»Da kann man nur hoffen, dass sie ihn bald finden.« Seine Stimme hallte durch das Treppenhaus. Unten zischte die Sicherheitsschleuse. ICD war die Abkürzung für »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme«. Die »10« bedeutete, dass es sich um die zehnte Revision des systematischen Verzeichnisses handelte, und F 65.6 gab an, dass bei der betreffenden Person mehrere abnorme sexuelle Präferenzen existierten, ohne dass eine davon im Vordergrund stand. Die häufigste Kombination war Fetischismus, Transvestitismus und Sadomasochismus. Er musste herausfinden, wie der Typ hieß.
»Guten Tag, Herr Kollege. Auch mal wieder im Hause? Die vor Sarkasmus triefende Stimme kam von unten. Frieder Solomon stand breitbeinig neben der Zwischentür und hatte ein überhebliches Lächeln aufgesetzt. »Hatten Sie wieder ein Teestündchen mit Frau Doktor French?« Es klang anzüglich. Der Blick des Chefarztes fiel auf Marks rechten Arm, und er erstarrte. Erst jetzt bemerkte Mark, dass dort noch immer die hellblaue Mappe klemmte. Er schob den Arm nach vorn, um das Schild zu verdecken, und konnte Agnes hinter sich einatmen hören. Frieder Solomon hatte den Hals gestreckt und die kurzsichtigen Augen zusammengekniffen.
»Sie wollten gerade gehen, Herr Kollege?« Jetzt setzte der Klinikchef sich in Bewegung und rauschte an ihnen beiden vorbei. Sein »Wiedersehn!« hörten sie von oben, dann verschwand er um die erste Biegung. Mark sah das Flackern in Agnes’ Augen, bevor sie kurz die Schultern hob. Um ihretwillen hoffte er, dass Solomon nicht erkannt hatte, was Mark da davontrug.
22
LASST MAGNUS GEROLDSEN FREI! ER IST UNSCHULDIG!
SEID IHR ALLE BLIND? GLEICH BEI DER ERSTEN HERZENSGABE HÄTTET IHR MERKEN MÜSSEN, DASS ER FREI VON SCHULD IST!
REHABILITIERT IHN UND ZWAR SCHNELLSTMÖGLICH!
WIR WERDEN SONST NICHT AUFHÖREN!
»Diese ganzen Ausrufezeichen …« Lara schüttelte den Kopf. Die Buchstaben auf dem Bildschirm flackerten vor ihren Augen. »›Herzensgabe‹ – das scheint ein Wortspiel zu sein. Ich glaube, es ist aussichtslos, aus dem Schriftbild oder dem Text etwas auf den Schreiber schlussfolgern zu wollen. Aber trotzdem danke, dass du mir das Schreiben gezeigt hast.« Sie lächelte Jo an, der neben ihr mit seinem Schreibtischstuhl hin und her rollte. »Ich will auch gar nicht wissen, woher du es hast.«
»Du darfst den Text nicht zitieren.« Er schob kurz die Unterlippe vor. »Wir könnten aber mit Mark darüber sprechen. Hatte er nicht versprochen, sich in diesem Psychoknast nach einem Komplizen von Geroldsen umzuhören?«
»Psychoknast?« Lara zog die Augenbrauen hoch. »Ja, hatte er. Heute hat er sich mit einer Kollegin in Obersprung über den Fall unterhalten. Ich habe vorhin mit ihm telefoniert.«
»Was hat er herausbekommen?«
»Wir konnten nur kurz sprechen, weil er noch auf einen Patienten gewartet hat. Das ganze Gespräch lief wohl recht verklausuliert ab, weil sie an ihre Schweigepflicht gebunden sind, hat er mir erklärt. Aber bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass Geroldsen mit jemandem kooperieren könnte. Er kapselt sich ab, hat keinen Kontakt zu anderen Patienten.«
»Patienten!« Jo schnaubte verächtlich. »Das sind Straftäter, Verbrecher!«
»Ja, natürlich. Lass uns jetzt nicht darüber streiten.« Lara sah zu ihm hinüber. Das Licht der Schreibtischlampe warf tiefe Schatten auf Jos Gesicht. »Mark ist irgendwie an die Akte von diesem Geroldsen rangekommen und will sich die Unterlagen heute Abend vornehmen.«
»Das ist gut. Vielleicht findet er da Anhaltspunkte.« Jo deutete auf den Text. »Nach einem Nachahmungstäter
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