Das sechste Herz
haben wir Glühwein.« Rolfs ausgestreckter Arm schwenkte zu der Kochplatte mit dem Edelstahltopf. »Alkoholfreien natürlich.« Er grinste, als sei dies der Witz des Tages gewesen. »Bedient euch!«
Daher also der penetrante Zimtgeruch. Gemurmel setzte ein. Micha und Lutz erhoben sich als Erste. Obwohl sie sich nicht ähnlich sahen, handelten sie stets wie eineiige Zwillinge. Friederike folgte ihnen auf dem Fuß. Ob sie mit den beiden auch schon was gehabt hatte?
Während Lisa noch darüber nachdachte, wie sie Frank am besten ansprechen konnte, ertönte dessen Stimme direkt hinter ihr. »Ich mag keinen Glühwein, du?« Sie vollführte im Aufstehen eine halbe Drehung und stolperte über ihre Füße. Frank hielt ihren Arm fest und murmelte ein »Hoppla«. Lisas Kopf war wie mit Watte gefüllt, sie bekam keine Luft, geschweige denn, dass sie sinnvolle Sätze hervorbrachte. Gleich darauf verschwand der sanfte Druck an ihrem Oberarm, und das Hintergrundgemurmel brandete an ihre Ohren wie Meeresrauschen. Das Ganze hatte nur ein paar Sekunden gedauert, und anscheinend hatte keiner etwas von ihrer Konfusion bemerkt.
»Ich mag auch keinen.« Die Worte hörten sich an, als kämen sie von jemand anderem. Sie spürte, wie Frank sich abwenden wollte, und setzte hastig hinzu: »Aber wir können ja mal kosten. Rolf zuliebe. Damit er sich die Mühe nicht umsonst gemacht hat. Was meinst du?« Jetzt sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Von einem Extrem ins andere.
»Hm.« Frank dagegen schien heute nicht seinen gesprächigen Tag zu haben. »Von mir aus.« Er setzte sich in Bewegung, und sie beeilte sich, ihm zu folgen. Nicht dass er es sich noch anders überlegte.
Die Plätzchen von Grit waren trocken und schmeckten nach nichts. Lisa trank einen Schluck von dem heißen roten Gebräu, um die Krümel hinunterzuspülen, und verbrannte sich die Zunge. Das Zeug war ekelhaft. Mit Glühwein, wie sie ihn von früher kannte, hatte es gar nichts gemein. Das war nun der Fluch ihrer Trunksucht. Sie würde zeitlebens auf bestimmte Dinge verzichten müssen, die lecker schmeckten.
Lisa schielte zu Frank. Dem schien es ähnlich zu gehen. Er kaute noch immer an seinem ersten Keks. Wenn er den Mund voll hatte, würde er ihr vielleicht nicht gleich absagen.
»Sag mal …« Sie berührte vorsichtig seinen Unterarm und zuckte sofort zurück, als hätte sie sich verbrannt. »Hast du Lust, nachher noch einen Kaffee mit mir trinken zu gehen? Oder eine Cola?« Er schluckte, und sie fuhr fort: »Irgendetwas, das besser schmeckt als das hier?«
Noch ehe er sprach, kannte Lisa die Antwort. Ihre Brust wurde eng, und Bitterkeit stieg aus dem Bauch nach oben.
»Tut mir leid. Ein andermal gern. Heute muss ich dringend noch etwas erledigen.« Frank stellte den Becher ab und zog einen Mundwinkel nach oben. »Ich bin schon fast weg.« Er sah ihren Blick und setzte hinzu: »Vielleicht am Freitag, okay?« Dann drehte er sich um und winkte Rolf und den anderen kurz zu. »Tschüss!«
Lisa hatte Mühe, das Zittern ihrer Unterlippe zu unterdrücken. Und dabei hatte alles so gut angefangen! Wohin wollte er jetzt so dringend? Zu einer Freundin? Wartete irgendwo eine Frau darauf, dass er endlich nach Hause kam? Sie schluckte trocken, sah Frank hinausgehen und stellte ihre Tasse ohne hinzusehen neben seine. »Ich muss auch los. Macht’s gut.«
Sie musste herausfinden, was Frank vorhatte. Vorsichtig tappte sie zur Tür, während sie die aufkommenden Tränen hinunterschluckte. Keiner würde Lisa Bachmann heulen sehen.
24
Frank fuhr gemächlich durch die Vororte. Ab und zu vergewisserte er sich durch einen Blick in den Rückspiegel, ob der Fiesta ihm noch folgte. Vor Ampeln achtete er darauf, nicht bei Gelb zu fahren, damit der klapprige Wagen hinter ihm den Anschluss nicht verlor.
In den Fenstern der Reihenhäuser leuchteten die Schwibbogen, in fast allen Vorgärten hatten die Besitzer Lichterketten auf Tannen und Fichten montiert. In knapp drei Wochen war Heiligabend. Wie jedes Jahr veranstaltete Rolf auch diesmal wieder eine Weihnachtsfeier in der Gruppe – für diejenigen, die nicht im Kreis der Familie feiern wollten oder konnten oder keine Angehörigen hatten. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Frank hatte sich bereit erklärt, am kommenden Freitag einen Baum mitzubringen, den die Frauen aus der Gruppe dann schmücken wollten. Er würde ihn in Großvaters Garten absägen. Hinten am Zaun standen genügend nutzlose Fichten herum.
Doktor Grünthal
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