Das sechste Herz
geöffnet hatte und diese ihre Beobachtungen dann an Solomon weiterberichtet hatten.
Und noch etwas war seltsam, wenn nicht gar unglaubwürdig. Wenn Geroldsen tatsächlich seit Jahren regelmäßig hochdosiertes Benperidol einnahm, mussten die Nebenwirkungen inzwischen gravierend sein. Parkinson-Symptome wie Bewegungsarmut, Zittern und Muskelsteifheit stellten sich fast unweigerlich ein. Diese Spätdyskinesien betrafen vor allem die Kiefer- und Gesichtsmuskulatur. Hinzu kam, dass der verabreichende Arzt zu Beginn der Behandlung ein Ausgangs- EEG erstellen musste, um spätere Veränderungen nachweisen zu können. In dem, was Mark bisher in der Akte gelesen hatte, war keine Notiz davon zu finden gewesen. Entweder hatte Agnes keine Kopien davon angefertigt, oder Solomon hatte es schlicht unterlassen, ebenso wie die vorgeschriebenen regelmäßigen Kontrollen des Blutbildes, der Leber- und Nierenfunktion sowie der Kreislaufsituation.
Bei Auftreten der genannten Nebenwirkungen würde Geroldsen faktisch nicht in der Lage sein, erfolgreich ein Studium zu absolvieren. Er tat es jedoch, und sogar mit großem Erfolg, wie Agnes berichtet hatte. Mark legte die Akte zurück in die Schreibtischschublade, schob den Stuhl nach hinten und erhob sich. Seine Knie schmerzten. Sie würden einen Wetterumschwung bekommen.
Es gab eigentlich nur zwei mögliche Erklärungen für das Ganze. Entweder Magnus Geroldsen nahm seine Medikamente nicht wirklich ein, sondern tat nur so, oder Dr. Dr. Frieder Solomon hatte in der Akte nicht die Wahrheit vermerkt.
28
»Hör mal, das nimmt vielleicht Ausmaße an …« Lara betrachtete Jos Gesicht von der Seite. Er hatte das Kinn nach vorn geschoben. An seiner Schläfe pochte eine Ader. »Ich komme gar nicht mehr zu meiner ›normalen‹ Arbeit. Gestern waren wir bei dieser Herz-Schmerz-Firma, wo sie den fünften Behälter gefunden haben, hatten aber Pech, weil die Kripo alles weiträumig abgesperrt hatte, und heute erzählst du mir, dass in Eilenburg eine Frauenleiche gefunden wurde. Irgendwann muss ich auch mal meine Artikel schreiben.«
»Du wolltest doch informiert werden. Außerdem ist das die Gelegenheit, direkt vor Ort zu recherchieren. Und Fotos hättest du auch gleich dazu. Ich stelle sie dir sogar unentgeltlich zur Verfügung.«
Jo schien schlechte Laune zu haben. »Bist du gereizt?«
»Nein, ich denke über den Fall nach. Ich werde das Gefühl nicht los, dass diese tote Frau zu dem Herz aus der Wittenberger Straße gehört. In der Eilmeldung stand, sie wäre ›ausgeweidet‹ worden. Das deutet doch darauf hin, dass Organe gefehlt haben.«
»Klingt plausibel.« Wahrscheinlich war Jo tatsächlich nicht griesgrämig, sondern nur konzentriert.
»Eigentlich hatte ich ja heute auch etwas anderes vor, ich wollte zu dieser Pressekonferenz.«
»Fotos für die Tagespresse schießen?« Er nickte, und Lara fuhr fort. »Christin schreibt ganz schön ›plakative‹ Artikel.« Bei »plakativ« zeichnete sie mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft.
»Tom scheint das zu mögen. Es trägt anscheinend zum Verkaufserfolg bei.«
»Und nun muss Christin dort selbst Fotos machen? Kann sie das überhaupt?«
»Es ist schließlich nur eine Pressekonferenz. Das würde sie vielleicht sogar hinkriegen. Aber Hubert hat Patrick, unseren neuen Praktikanten, als Verstärkung mitgeschickt. Der stellt sich beim Fotografieren gar nicht so doof an. Sollten alle Stränge reißen, organisiere ich ein paar Bilder von einem Kollegen.«
»Und du machst dich nicht unbeliebt, wenn du diesen Job einfach so sausen lässt, um woanders hinzufahren?«
»Vergiss nicht, ich bin freier Fotograf. Ich kann mir meine Aufträge aussuchen. Davon abgesehen ist das hier natürlich auch in Toms Interesse.« Er holte tief Luft. »Da wären wir.«
Lara sah das Ortseingangsschild von Eilenburg vorbeihuschen. Auf dem Display von Jos Navigationsgerät rückte ein großes blaues Oval – die Kiesgrube im Osten der Stadt – näher. »Weißt du eigentlich, wo genau die Tote gefunden wurde?«
»Im Polizeifunk haben sie gesagt, in der Nähe der Eilenburger Landstraße am Nordufer. Wir sind auf dem Weg dorthin. Und ich versichere dir, wir werden den Schauplatz schon von Weitem erkennen können. Nachdem die Meldung über alle Kanäle ist, werden sich dort nicht nur Kripo und Spurensicherung, sondern auch jede Menge Schaulustige und die Presse tummeln.«
Der Motor röhrte, als Jo Gas gab. »Schau mal, da vorn sind sie schon. Ich schlage vor,
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