Das sechste Herz
wohl auch jeder Außenstehende gestellt haben musste, die Frage nämlich, warum Magnus Geroldsen zu dieser eiskalten Tötungsmaschine geworden war, hatten weder Mark Grünthal noch die anderen Gutachter beantworten können.
Natürlich existierten Theorien zu Entstehungsgeschichte und Ursachen einer solch schweren Form der psychischen Erkrankung, aber gerade im Fall der antisozialen Persönlichkeitsstörung gab es nicht die »eine« Causa, sondern es spielten viele Faktoren eine Rolle. Magnus Geroldsen hatte zumindest schon im frühesten Kindesalter nicht nur unzureichende Impulskontrolle und Emotionsregulation gezeigt, sondern auch fehlende soziale Kompetenz und mangelndes Mitgefühl.
Mark schrak zusammen, als die Tür vom Wartezimmer aufsprang, und sah seine Sprechstundenhilfe entschuldigend lächeln.
»Tut mir leid, ich wollte nicht stören.«
»Nein, schon gut.« Er lächelte zurück. »Ich war ganz in meine Unterlagen vertieft.«
»Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich jetzt gehe.« Die Arzthelferin hatte ihren Kittel schon ausgezogen. Jacke und Schal baumelten über ihrem rechten Unterarm. »Bis morgen, Chef.«
»Bis morgen, Annemarie. Ich schließe nachher ab.« Mark beobachtete, wie sie leise die Tür hinter sich zuzog. Ohne dass er es gemerkt hatte, war über eine Stunde vergangen. Sein Blick kehrte zu der Akte auf seinem Schreibtisch zurück. Frieder Solomon hatte fast den gesamten Rand vollgekritzelt, Fragezeichen, Ausrufezeichen und Schlangenlinien wechselten sich ab, zwischendurch hatte der Kollege auch ab und zu Worte wie »fraglich«, »zweifelhaft« oder »Spekulation« neben den Text gekritzelt.
Anscheinend stimmte Dr. Dr. Solomon nicht mit Marks Gutachten überein. Dass er seinen Kollegen nicht leiden konnte, war bei Marks Besuchen in Obersprung jedenfalls nicht zu übersehen gewesen. Solomons Schriftbild deutete auf einen dominanten Charakter hin, und er hatte den Stift an manchen Stellen so heftig aufgesetzt, dass sich die Buchstaben auf die nächste Seite durchgedrückt hatten. Mark ertappte sich selbst dabei, wie er den Kopf schüttelte. Der gute alte Frieder war nicht in der Lage, eine andere Meinung neben seiner gelten zu lassen. Es lohnte sich jedoch nicht, darüber einen fachlichen Disput zu führen. Sein Gutachten war lange her, der Patient hatte sich mit Sicherheit weiterentwickelt, er studierte Jura und stand kurz vor dem Abschluss, und womöglich hatte Mark damals tatsächlich in manchem nicht ganz richtiggelegen. Er begutachtete jetzt seit über zehn Jahren Patienten. Je mehr Hintergrundwissen fehlte, umso schwieriger war die Einschätzung ihrer Krankheitszeichen. Mark löste den Blick von den Seiten und stierte in die Ferne. Die Frage war jedoch: Was hatte Frieder Solomon in Geroldsens zehn Jahren im Maßregelvollzug unternommen, um den Patienten zu therapieren?
Eine Anamnese fehlte. Seine eigene war kurz und unvollständig gewesen, weil Geroldsen geschwiegen hatte und damals außer einem Kinderarzt, der die Geschwister sporadisch behandelt hatte, sonst niemand verfügbar gewesen war, den er zur Krankengeschichte hätte befragen können. Hatte Solomon bei Geroldsens Einlieferung keine eigene Anamnese erstellt oder war Agnes diese nicht wichtig genug erschienen, um sie zu kopieren? Mark klebte eine Haftnotiz an den oberen Rand und notierte sich, die Kollegin bei seinem nächsten Besuch in Obersprung danach zu fragen.
Schwere Formen der APS , der antisozialen Persönlichkeitsstörung, wie bei Magnus Geroldsen waren schwierig zu behandeln. Studien hatten gezeigt, dass sich das Verhalten der Betroffenen durch negative Rückkopplung, also durch Bestrafung, nicht ändern ließ. Manche Kollegen diskutierten sogar darüber, ob eine Behandlung solcher »Psychopathen« überhaupt sinnvoll war. Die meisten Therapieprogramme waren verhaltenstherapeutisch und kognitiv-behavioral ausgerichtet, Patienten mit APS sprachen jedoch kaum darauf an. Mark hatte mehrfach Berichte über eine erhöhte Rezidivrate nach solchen Therapien gelesen, was bedeutete, dass der Betreffende rückfällig geworden war.
Günstig für die Gefährlichkeits- und Rückfallprognose waren eine frühestmögliche Diagnose und konsequente Betreuung. Nach Marks Kenntnisstand war das bei Magnus Geroldsen in der Kindheit anscheinend unterblieben. Es existierte auch nur noch eine Person, die man dazu befragen könnte – Geroldsens Vater. Falls der Alkohol ihm nicht inzwischen den Garaus gemacht hatte. Mark zog eine zweite
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