Das sechste Herz
studiert, jedes noch so kleine Zucken der Gesichtsmuskeln registriert und darauf gewartet, dass der Siebzehnjährige sprach, doch Magnus Geroldsen hatte all die Wochen über keinen einzigen Satz von sich gegeben. Nachbarn, Lehrer, Schulkameraden und auch das Kindermädchen hatten ausgesagt und ein bestürzendes Bild eines soziopathischen Jungen gezeichnet.
Verwandte, die man damals hätte zur Vorgeschichte befragen können, waren nicht vorhanden gewesen: Geroldsens Geschwister waren tot, die Mutter lag mit einem schweren Nervenzusammenbruch auf der geschlossenen Station einer psychiatrischen Klinik, sein Vater war seit der Bluttat verschwunden; wahrscheinlich trieb er sich unerkannt in irgendwelchen Kneipen herum und nächtigte im Freien. Beide Elternteile waren Einzelkinder gewesen, und so gab es weder Tanten noch Onkel. Die Großeltern hatten sich versteckt und verweigerten die Zusammenarbeit – eine denkbar ungünstige Situation für einen Gutachter.
Somit war eine ausführliche kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik unmöglich gewesen, weil Mark keine Familienanamnese hatte durchführen können und Geroldsen sich klinischen Interviews wie dem Kinder- DIPS , dem Einsatz von Fragebögen, einer IQ -Testung oder der Leistungsdiagnostik verweigert hatte. Lediglich die internistisch-neurologische Untersuchung, das Alkohol- und Drogenscreening und ein EEG hatte er wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, regungslos über sich ergehen lassen.
Trotz alledem war Mark noch immer davon überzeugt, dass seine Beurteilung richtig gewesen war. Wenn auch die Verwandten nicht befragt werden konnten, so hatten wenigstens die Aussagen ehemaliger Lehrer, einer Kindergärtnerin und mehrerer Au-pair-Mädchen der Familie dazu beigetragen, die Diagnose zu untermauern. Schnell überflog er seine Angaben von vor zehn Jahren und setzte in Gedanken hinter jeden Anstrich ein Häkchen: gravierende oppositionelle Verhaltensstörungen schon als Vorschulkind, frühe aggressive Durchbrüche in Form von aggressivem Verhalten gegenüber Mitschülern und Lehrern in der Grundschulzeit, Sachbeschädigungen, Verletzung sozialer Normen (bei G. nachgewiesen: Stehlen, häufiges Lügen), schwerwiegende dissoziale Verhaltensweisen (bei G. nachgewiesen: Grausamkeit gegenüber Tieren), mangelnde Schuldgefühle = keine Reue für begangene Taten, Bindungsstörungen, fehlende gefühlsmäßige Beziehungen, Empathie-Defizit, niedrige Emotionalität (Gemütstiefe), unzureichende Gewissensbildung.
In seiner Zusammenfassung hatte er geschrieben: »Es ist zu erwarten, dass im Erwachsenenalter weiteres antisoziales Verhalten auftreten wird. Ein sicherer Vorbote dafür ist das Vorhandensein dissozialer Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter. Das offenkundigste aller frühzeitig erfassbaren Persönlichkeitsmerkmale ist aggressives Verhalten, das bereits im Vorschulalter auftritt. Hierbei ist der Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens von hoher Bedeutung für den weiteren Verlauf.
Bei G. zeigen sich gravierende Defizite in der seelischen Persönlichkeitsstruktur, u. a. völliges Fehlen von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen.
Der Begutachtete ist nicht in der Lage, auf andere Personen Rücksicht zu nehmen. Sein eigenes Gefühlsrepertoire, insbesondere für negative Gefühle, ist beschränkt, er imitiert hier die Körpersprache anderer Personen. G. nutzt die Gefühle anderer manipulierend aus. Er kennt weder Schuldgefühle noch Verantwortungsbewusstsein. Auffällig ist sein pathologisches Lügen. Nach der Psychopathie-Checkliste von Robert D. Hare tendiert G. zur Dimension zwei, also zu impulsiver Ausprägung. Anzeichen für ein neuroanatomisches oder neurobiologisches Geschehen in früher Kindheit, also Verletzungen des Gehirns, insbesondere der Frontallappen, gibt es nicht. Das Alkohol- und Drogenscreening ergab keine gravierenden Abweichungen, unregelmäßiger Gebrauch von Tetrahydrocannabinol ( THC in Form von Haschisch) ist jedoch nachgewiesen.«
Mark sah aus dem Fenster. Sein Gesicht spiegelte sich als blasses Oval in der dunklen Scheibe. Es gab keinen Zweifel, Magnus Geroldsen hatte eine schwere Form der dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung. Auch wenn in keinem der gängigen Klassifikationssysteme die Diagnose »Psychopathie« aufgenommen worden war, beschrieb sie Geroldsens Erkrankung doch am besten.
Die Frage jedoch, die damals fast jeden im Gerichtssaal umgetrieben hatte, die Frage, die sich jeder Beobachter und
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