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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Puhlfürst
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ergriffen seine Hände den Zettel mit den Fragen und falteten ihn in der Mitte zusammen. Er würde Thorwald informieren müssen. Heute noch. Zum einen, um Marks Geschichte zu stützen, falls Solomon auf die Idee kam nachzu-fragen, zum anderen, um ihm die ganze Sache zu erklären und ihn um Unterstützung zu bitten.
    Außerdem würde er nun wieder bei Agnes nachhaken müssen, was ein wenig peinlich war in Anbetracht dessen, was sie schon alles für ihn getan hatte. Aber sie war die Einzige, die an Details herankam, ohne dass es auffiel.
    Bis er mehr von ihr erfuhr, konnte er lediglich eins tun: ein bisschen in Geroldsens Vergangenheit herumstochern. Viele Alternativen gab es hier jedoch auch nicht. Die Mutter hatte sich das Leben genommen, die Großeltern waren inzwischen gestorben. Blieb nur der Vater. Zur Zeit des Prozesses war Wulf Geroldsen nicht auffindbar gewesen. Laut Auskunft einiger Zeugen vor Gericht »trieb er sich in Kneipen herum und nächtigte im Freien«. Wenn der Mann zehn Jahre so weitergemacht hatte, war die Wahrscheinlichkeit, dass er noch lebte und sich an etwas aus der Vergangenheit erinnerte, äußerst gering. Mark überlegte, wie er am zeitsparendsten vorgehen konnte, um den Mann zu finden. Am schnellsten ging es übers Internet, aber nur, wenn der Betreffende dort Spuren wie Telefonbucheinträge oder Facebookposts hinterlassen hatte. Dann gab es Hilfsorganisationen wie die Obdachlosenhilfe, bei denen er anrufen konnte. Vielleicht hatte er Glück und fand eine Spur. Wenn nicht, hatte er sein Möglichstes getan.
    *
    »Hast du das Foto?« Jo bewegte die Finger mit rasender Geschwindigkeit über das Display seines Handys. Leise brummte der Motor des Hondas im Leerlauf, aus den Düsen im Fußraum strömte warme Luft.
    »Auf weißem Papier in A4 ausgedruckt.« Lara schaute zur Sicherheit noch einmal in die gelbe Mappe. Gleich auf der ersten Seite leuchtete ein wenig unscharf das breitflächige Gesicht von Lisa Bachmann. Die Kleine war keine Schönheit, aber auch nicht hässlich. Irgendwie unscheinbar. Die blonden Haare hingen glatt herunter, die Nase war ein wenig zu groß geraten, die Augen standen zu dicht beieinander. Sie hatten Lisas Foto über die Bildersuche im Netz gefunden. Heutzutage existierten über fast jeden Menschen Informationen im Internet; Freunde luden kommentierte Bilder hoch, Nutzer posteten ihren gesamten Lebenslauf in sozialen Netzwerken, bis hin zu Adressen und Telefonnummern. Lisa Bachmann hatte zwar die Informationen auf ihrer Facebookseite für Fremde unsichtbar gemacht, sich jedoch außerdem in einem dieser Netzwerke verewigt, in denen man Freunde aus der Schulzeit fand und verwalten konnte. Von dort aus war es nicht besonders schwierig gewesen, ein Foto ihrer Abschlussklasse auf-zuspüren. Mit einer Bildbearbeitungssoftware hatte Jo dann ihr Gesicht herausgeschnitten, es, so gut es ging, geschärft und vergrößert.
    Lisa mochte auf dem Foto um die sechzehn gewesen sein. Sicher hatte sie sich in den darauffolgenden fünf Jahren noch verändert, aber Jo und Lara hatten ja nicht vor, eine Fahndung nach ihr auszulösen. Um das Mädchen zweifelsfrei zu identifizieren, reichte die Abbildung allemal.
    Aus den Augenwinkeln nahm Lara eine Bewegung wahr. Sie löste den Blick von der Mappe auf ihrem Schoß und schaute hinaus. »Da sind ja wieder Grit und Holger.«
    »Mit ihrer Fußhupe. Rrrr.« Jo ahmte das Geräusch des wütenden Kläffers nach und lachte dann. »Wollen wir uns auch so langsam mal aufraffen?«
    »Ja, lass uns klingeln.« Lara klappte die Mappe zu und verstaute sie in ihrer Umhängetasche. »Ich zeige das Foto zuerst Rolf. Wenn wir wissen, ob unsere und seine Lisa identisch sind, warten wir auf diesen Frank und befragen ihn.«
    »Guter Plan.« Jo drückte die Tür auf und stieß ob der hereinströmenden Kälte die Luft mit einem Prusten aus. »Ich fühle mich allmählich wie in Sibirien.« Er schien keinen Kommentar zu erwarten, sondern stand draußen, bis sie ausgestiegen war, verriegelte dann das Auto und stiefelte mit schnellen Schritten auf den Eingang der Begegnungsstätte zu. Lara marschierte hinterher.
    »Jo, der Fotograf!« Eine atemlose Stimme in Laras Rücken. »Da bist du ja wieder. Lange nicht gesehen!«
    Lara musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wem das atemlose Gezwitscher gehörte – der jungen Frau mit den roten Lippen, die Jo schon gestern angebaggert hatte. Auch heute hatte sie wieder ihre Kriegsbemalung aufgelegt. Der blutrote Mund klappte

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