Das sechste Herz
ihnen vorbei. Keiner der Neuankömmlinge hatte gefragt, wer die Besucher waren oder was sie hier wollten. Anscheinend waren es die Teilnehmer der Treffen gewohnt, dass von Zeit zu Zeit jemand dazukam oder nicht mehr auftauchte.
Rolf zuckte entschuldigend die Achseln. Wahrscheinlich sollte das bedeuten, dass der Zopf-Mann nicht Frank war.
»Kommt ihr heute mit rein?«, gurrte Friederike, die sich noch dichter an Jo gedrängt hatte.
»Du weißt doch, weswegen die beiden Journalisten hier sind.« Rolf hatte eine senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen. »Sie wollen mit Frank sprechen. Dann gehen sie wieder. Außerdem ist das heute kein öffentliches Treffen, bei dem Fremde erlaubt wären.«
»Ich dachte ja nur …« Die Lippen schoben sich nach vorn.
Draußen polterte es, dann fluchte eine Männerstimme. Lara vergaß sofort ihren Ärger über die Anmachversuche der kleinen Dorfschönheit, sah zu Jo und dann zur Tür. Wieder polterte es, dann senkte sich die Klinke langsam herab. Vier Augenpaare starrten zum Eingang.
»Verfluchtes Glatteis!« Es war der Tätowierte, der gestern Abend gegenüber von Lara gesessen hatte. Sie konnte die Enttäuschung in ihrer Brust wie ein scharfes Brennen spüren.
»Du solltest Salz streuen, Rolf. Die Stufen sind glatt wie Schmierseife.«
»Bin ich hier der Hausmeister?« Rolf klang barsch.
»Ich mein ja nur. Wenn sich einer von uns was bricht, suchen sie einen Verantwortlichen.«
»Und der bin dann wohl ich. Na gut, Paul. Ich schau gleich mal in der Küche nach. In fünf Minuten fangen wir an. Ich warte noch auf Frank.«
»Vielleicht verspätet er sich?« Paul war nicht nur an den Armen tätowiert, sondern auch am Hals und sogar im Gesicht unter den Augen. Lara dachte, dass sie sich nachts allein auf der Straße vor ihm gefürchtet hätte. Hier, im hellen Licht des Vorraums, mit den dicken Filzlatschen, in die er gerade schlüpfte, wirkte er eher harmlos.
»Frank verspätet sich öfter!« Friederike wollte auch ihren Senf dazugeben. »Aber vielleicht ist er auch krank.«
»Eigentlich wollte er uns heute den Baum bringen. Frank ist in solchen Dingen zuverlässig. Mich wundert das. Er hätte anrufen können.« Der Leiter machte keine Anstalten, nach dem Salz zu schauen, sondern blieb neben Lara stehen.
»Der kommt sicher noch.« Paul verschwand nach drinnen.
»Was machen wir nun?« Friederike sah wieder zu Jo auf.
»Wir sollten anfangen. Geh ruhig schon rein. Die Journalisten und ich besprechen uns noch kurz.« Rolf machte eine wischende Handbewegung, Friederike zog einen Schmollmund und verschwand zögernden Schrittes.
Lara klemmte ihre Mappe unter den Arm. »Wissen Sie was? Wir warten draußen im Auto. Wenn er noch kommt, können wir kurz mit ihm reden, bevor er reingeht. Wie sieht er aus?«
»Er hat einen Weihnachtsbaum unter dem Arm.« Rolf kicherte wie ein Schulmädchen und wurde gleich wieder ernst. »Nein, Spaß beiseite. Frank ist etwa so groß wie du«, er zeigte auf Jo, »hat kurz geschnittene braune Haare und braune Augen.«
»Klingt ziemlich durchschnittlich.«
»Leider kann ich euch nicht mit auffälligen Kennzeichen dienen. Jetzt im Winter trägt er meist eine dunkelblaue Daunenjacke. Keine Mütze.«
»Wir werden es bemerken, wenn ein Mann, der dieser Beschreibung gleicht, kommt. So viele Teilnehmer erwarten Sie doch nicht mehr oder?«
»Es fehlen immer ein paar, aber nein.« Rolf wackelte mit dem Kopf wie ein altersschwacher Eisbär. »Ich hoffe, ihr trefft ihn, und er weiß etwas von Lisa, das euch weiterhilft.«
»Den Nachnamen von diesem Frank kennen Sie wohl nicht zufällig?« Lara schlüpfte in ihre Jacke.
»Ach, das hatte ich ganz vergessen, euch zu sagen!« Der Gruppenleiter tippte sich mit dem Mittelfinger an die Stirn und flüsterte, damit die anderen nicht mitbekamen, wie er einen Nachnamen nannte. »Durch einen seltsamen Zufall weiß ich tatsächlich, wie er mit vollem Namen heißt.« Er wollte zu einer weitschweifigen Erklärung ausholen, aber Jo unterbrach den Redeschwall, indem er erst auf seine Armbanduhr und dann auf die Zwischentür, die in den Besprechungsraum führte, zeigte.
»Studer. Frank Studer heißt er.«
»Wunderbar. Und nun gehen wir, damit Sie sich Ihrer Gruppe und der Vorbereitung der Weihnachtsfeier widmen können.«
Rolfs Hand war feucht, und Lara wischte ihre Handfläche unauffällig an der Jeans ab. Auf dem Weg nach draußen dachte sie, dass es nützlich war, nun den Nachnamen von Lisas Freund zu kennen. Falls
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