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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Puhlfürst
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Frank Studer heute nicht mehr erschien, konnten sie herausfinden, wo er wohnte, und ihn eventuell zu Hause aufsuchen.

32
    »Sie sind Doktor Grünthal?«
    Mark konnte seine Verblüffung gerade noch verbergen. Die Frau am Telefon hatte eine tiefe, ziemlich erotische Stimme gehabt und war in seiner Vorstellung groß und dunkelhaarig gewesen, mit markanten Gesichtszügen und tiefrotem Mund. Jetzt stand eine kleine Dicke mit Stupsnase vor ihm, die Falten in ihrem Gesicht verkündeten, dass sie deutlich jenseits der fünfzig sein musste, und ihre Haare, die vielleicht früher einmal tatsächlich naturblond gewesen waren, trugen den typischen Gelbstich jahrelangen Färbens. Aber wahrscheinlich dachte sie gerade das Gleiche: dass er ihren Vorstellungen genauso wenig entsprach.
    Mark versuchte ein Lächeln und streckte der Frau die Hand hin. »Der bin ich. Wie sieht es denn aus, Frau Dörfler?«
    Gerlind Dörfler war die Leiterin des Hauses Strohhalm , eines Obdachlosenheims in Berlin-Mitte. Mark hatte gestern noch fast zwei Stunden damit zugebracht, die verschiedenen Einrichtungen der Obdachlosen-, oder wie es heute hieß: Wohnungslosenhilfe, in Berlin abzutelefonieren, um sich nach Wulf Geroldsen zu erkundigen. Es gab Einrichtungen der evangelischen Kirche, der Caritas oder des Arbeiter-Samariter-Bundes. Bei der Obdachlosenhilfe »Die Brücke« war er schließlich fündig geworden. Im Haus Strohhalm kannte man einen Mann dieses Namens, auch das Alter passte.
    »Der schläft ab und zu noch hier. Was wollen Sie denn von ihm, Herr Doktor?«, hatte Gerlind Dörfler gefragt. Nachdem er ihr, immer in der Hoffnung, sie möge nichts von Magnus Geroldsens Taten und dem Nachahmungstäter in Leipzig wissen, kurz erklärt hatte, dass es darum ging, einem seiner Patienten zu helfen, hatte sie ihm mit ihrer erotischen Stimme geantwortet: »Heute ist er nicht da, aber wenn Sie Glück haben, kommt Wulf morgen Abend. Allerdings habe ich ihn schon ein paar Tage lang nicht gesehen. Kann sein, dass er woanders untergekommen ist. Manchmal ist er auch in der Tagesbetreuungsstätte Stralauer Platz.«
    Mark hatte sich kurz gefragt, was die Frau meinte, und die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sich für Sonnabend gegen neunzehn Uhr angekündigt.
    »Na, dann kommen Sie mal rein, Herr Doktor.« Gerlind Dörfler schloss die Tür, drängte ihren massigen Körper an Mark vorbei und watschelte voran, wobei sie unablässig redete. »Wir stellen Wohnplätze für wohnungslose Männer, auch solche mit erheblichen psychosozialen Defiziten, bereit. Darunter sind sehr oft Alkoholabhängige oder Alkoholgefährdete. Manche sind nur kurze Zeit hier, andere kommen über Jahre sporadisch immer mal wieder. Wir haben zehn Plätze.«
    Mark betrachtete den schmutzig grünen Ölsockel im Flur und fragte sich, was er hier eigentlich tat. Jetzt fing er auch schon an, in der Gegend herumzufahren und Leute zu befragen. Wenn Lara ihn nicht darum gebeten hätte, wäre es ihm nie eingefallen, nur auf einen vagen Verdacht hin die Vorgeschichte ehemaliger Begutachteter zu recherchieren und deren Verwandte aufzusuchen. Zumal es unwahrscheinlich war, dass sich der Vater von Magnus Geroldsen nach zehn Jahren starken Alkoholkonsums überhaupt noch an Dinge aus seiner lange zurückliegenden Vergangenheit erinnern würde. Aber dieser Mann war die einzige Möglichkeit, die ihm und damit Lara blieb, etwas aus der Jugend von Magnus zu erfahren, aus einer Zeit, als der Junge inmitten seiner Geschwister daheim gelebt hatte. Wenn jemand Anhaltspunkte dafür liefern konnte, warum sich Geroldsen so abweichend von der Norm entwickelt hatte, dann sein Vater.
    »Wo willst du denn hin«, hatte Anna gefragt, als er seinen Mantel angezogen und sich für »ein, zwei Stunden« verabschiedet hatte, und hinzugefügt: »In zwei Wochen ist Weihnachten. Denkst du nicht, du solltest an einem Sonnabend im Advent bei deiner Familie sein, anstatt draußen herumzugeistern?« Sie war aufgebracht gewesen. Er hatte es an der steilen Stirnfalte sehen können, die sich zwischen ihre Augen gegraben hatte. Seine lapidare Begründung, er wolle den Vater eines Patienten aufsuchen, hatte sie nur noch wütender gemacht. Mit einem »Du kannst auch gleich bis Montag wegbleiben!« war sie ihm durch den Flur gefolgt. Sein besänftigendes »Ach komm, Anna. Spätestens um halb neun bin ich wieder hier« hatte die Sache eher noch verschärft. Das Letzte, was Mark gesehen hatte, ehe die Tür hinter ihm zugeflogen war, war

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