Das sechste Herz
Strickjacke? Das ist Richard. Richard war mal Rechtsanwalt. Seine Ex hat ihn bis aufs Hemd ausgezogen und zu Hause rausgeschmissen. Außerdem hat sie behauptet, er habe die Kinder missbraucht.« Ein verächtliches Schnauben folgte. »Alle haben ihr geglaubt. Weiber!« Er pochte mit dem Löffel auf den Tellerrand. »So leicht kann man auf der Straße landen. Und jetzt fragen Sie sich, was mich hierhergebracht hat.« Mark konnte sich die Antwort denken, aber er nickte nur, ohne zu antworten.
»Es stimmt, ich hatte einige Jahre lang den Halt verloren.« Wulf Geroldsen sah sich um. »Und ich habe auch übermäßig getrunken. Wie so viele hier. Aber das ist seit Längerem vorbei.« Neben ihnen nickte Gerlind Dörfler bestätigend.
Magnus Geroldsens Vater kam immer mehr in Fahrt, und Mark ließ ihn reden. Das Gefühl, dass ihm jemand zuhörte, würde für die anschließenden Fragen von Nutzen sein. Und vielleicht platzte während des Gesprächs etwas aus dem Mann heraus, das ihm weiterhalf.
»Warum ich dann noch immer keinen festen Wohnsitz habe, wenn ich doch schon so lange trocken bin, fragen Sie sich? Das ist ziemlich einfach. Überall, wo ich mich um Arbeit bewerbe, muss ich meinen Lebenslauf angeben. Wenn die Leute nicht schon bei meinem Namen stutzig werden, dann spätestens an der Stelle, wo der jahrelange Leerraum auftaucht. Es ist ja nicht so, dass ich überall hinschreibe, dass ich der Vater von Magnus Geroldsen bin, von dem Kerl, der angeblich seine drei Geschwister geschlachtet hat. Aber irgendwie kommen sie alle drauf. Der eine früher, der andere später. Ich kann mich auf den Kopf stellen, aber es gibt keinen Job für mich. Keine Arbeit, kein festes Einkommen, keine Sicherheit für Vermieter. Kein fester Wohnsitz, keine Arbeit. So beißt sich die Katze in den Schwanz.«
»Haben Sie es mit einer Änderung Ihres Nachnamens versucht? Im Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen steht sinngemäß, dass der Familienname von Angehörigen eines Straftäters geändert werden kann, wenn er selten oder auffällig ist und über die Berichterstattung zur Straftat eng mit Tat und Täter verknüpft ist. Das würde doch auf Sie zutreffen.«
»Das wusste ich gar nicht.« Wulf Geroldsen hatte aufmerksam zugehört. Zum ersten Mal erweckte er den Eindruck, seine Feindseligkeit abstreifen zu wollen, der Moment war jedoch so schnell vorbei, wie er gekommen war. »Warum hat mich keiner über diese Regelung informiert?«
Weil man sich um manches eben selbst kümmern muss. Mark sprach den Satz nicht aus. Und weil Sie noch vor dem Prozess spurlos verschwunden waren.
»Zumindest war ich aber schon auf dem Amt wegen einer Sozialwohnung.« Erneut nickte Gerlind Dörfler zu Geroldsens Worten. Eigentlich konnte sie sich gleich zu ihnen an den Tisch setzen, wenn sie sowieso jeden Satz verfolgte.
»Was wollen Sie denn nun von mir? Wenn ich mich richtig erinnere, sind Sie doch ein Psychiater. Oder Psychologe?«
»Ich arbeite unter anderem als forensischer Psychiater. Wie Sie sich ja noch erinnern, habe ich damals Ihren Sohn begutachtet.«
»Und nun ist da draußen einer, der ähnlich wie der damalige Täter vorgeht. Sie glauben doch nicht etwa, dass Magnus etwas damit zu tun hat?«
Der » damalige Täter«? Wen meinte der Mann? Und wer befragte hier eigentlich wen? Mark wollte antworten, aber Geroldsen hob die Hand.
»Inzwischen bin ich nämlich überzeugt davon, dass Magnus dieses schreckliche Verbrechen vor zehn Jahren nicht begangen hat. Jemand muss es ihm in die Schuhe geschoben haben. Er war erst siebzehn. Es ist doch absolut unglaubwürdig, dass ein Jugendlicher all seine Geschwister umbringt. Wo soll denn da das Motiv sein?« Wulf Geroldsen war jetzt ziemlich laut geworden, und Mark schaute zu den anderen hinüber. Die jedoch schien das Gespräch nicht zu interessieren. Sie saßen mit gelangweilten Mienen an ihren Tischen, einer war aufgestanden, um abzuräumen, zwei andere kramten gerade ein Kartenspiel heraus.
»Ein Motiv haben wir leider nie erfahren.« Mit Gegenargumenten würde Mark hier nicht weiterkommen. Er dachte an sein Gutachten und die eindeutigen Symptome einer schweren antisozialen Persönlichkeitsstörung, die Magnus aufgewiesen hatte und anscheinend noch immer aufwies, da er nie therapiert worden war, wenn man der Fallakte glaubte. Aber der Vater hatte wahrscheinlich, um überhaupt weiterleben zu können, irgendwann in den letzten Jahren beschlossen, die Schuld seines Sohnes zu leugnen,
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