Das sechste Herz
Joannas verängstigtes kleines Mausgesicht gewesen, das aus der Küche zu ihm herausgeschaut hatte.
Das Schlimme an der Sache war, dass er seine Frau verstand. Anna hatte sich auf ein gemütliches Wochenende mit ihm und den Kindern gefreut, und jetzt zog er, ohne es vorher angekündigt zu haben, noch einmal los. Hoffentlich würde sie sich nachher etwas beruhigt haben. Er unterdrückte ein Seufzen. So wie er Anna kannte, würde sie sich tagelang mit dieser Angelegenheit aufhalten und mindestens bis Mitte nächster Woche jedes persönliche Wort mit ihm vermeiden.
Gerlind Dörfler, die mit ihrer Rede inzwischen bei »Wir dulden keinen Alkohol, keine Drogen und keine Gewalt« angekommen war, öffnete die Tür zu einem großen Raum, der einer Essküche glich. In der Luft lag ein penetranter Geruch von Kohlsuppe.
Sieben Männer drehten gleichzeitig die Köpfe zur Tür. Obwohl sie alle unterschiedlich aussahen, ähnelten sie sich doch auf fatale Weise. Ihre Kleidung war abgenutzt und wirkte schmuddelig. Sechs von ihnen hatten sich nicht rasiert und trugen ungepflegte Drei-Tage-Bärte. Gerlind Dörfler hatte wie durch ein Wunder aufgehört zu schwafeln, und Mark grüßte etwas verlegen in die Runde.
Er musste nicht fragen, ob einer von den Männern Wulf Geroldsen war. Der einzige ordentlich rasierte Mann saß an dem Tisch links neben der Tür und war eine ältere und verlebtere Ausgabe von Magnus. Mit einem fragenden Blick zu der Leiterin, die ihm energisch zunickte, ging Mark auf den Mann zu, während die anderen die Köpfe wieder über die Suppenteller neigten.
»Guten Tag. Mark Grünthal ist mein Name.« Mark streckte die Hand aus, aber der andere griff nicht zu.
»Sie sind der Arzt, der damals meinen Sohn begutachtet hat.« Ein unfreundlicher Blick begleitete die Feststellung.
»Richtig, Herr Geroldsen. Darf ich Platz nehmen?« Mark zog die Hand zurück und legte sie auf die Stuhllehne.
»Von mir aus. Wenn Sie mich nicht beim Essen volllabern.« Wulf Geroldsen musterte Mark noch einen Moment lang, ehe er den Blick abwandte und weiteraß. Das konnte ja heiter werden. Der Mann schien geistig gut beisammen zu sein, wirkte aber feindselig.
»Möchten Sie auch etwas Eintopf? Es ist genug da. Wir kochen selbst.« Gerlind Dörflers erotische Stimme riss Mark aus seinen Überlegungen, wie er die Auster knacken konnte. Nachdem er bejaht hatte, eilte sie davon und kam kurz darauf mit einem Teller Suppe und zwei Scheiben Brot zurück. Betrübt betrachtete Mark die zahlreichen Kümmelkörner, dann begann er zu essen. Die Leiterin ließ sich mit einem Ächzen am Nachbartisch – in guter Hörweite – nieder und begann ein leises Gespräch mit einem der Bartträger. Ab und zu schielte sie herüber und sah dann sofort wieder weg.
»Was wollen Sie von mir?« Wulf Geroldsen ließ den Löffel auf den leeren Teller plumpsen und sah Mark direkt an. Strahlenförmige Falten zogen von seinen Augenwinkeln in alle Richtungen. Neben dem Mund hatten sich tiefe Furchen eingekerbt.
»Es geht um Magnus.«
»Was Sie nicht sagen. Da wäre ich ja nie draufgekommen.«
»Tut mir leid, Herr Geroldsen. Aber ich bräuchte ein paar Auskünfte von Ihnen.«
»Warum denn das auf einmal? Nach all den Jahren wollen Sie ›Auskünfte‹?«
Während Mark noch überlegte, wie viel er dem Mann verraten sollte und ob diese Informationen ihn nicht noch mehr verärgern würden, kam Magnus Geroldsens Vater ihm schon zuvor.
»Ist es wegen dieser Herzenfunde in Leipzig?«
»Ja. Ich recherchiere ein bisschen.« Mark dämpfte seinen Tonfall. Gerlind Dörfler hatte aufgehört, mit ihrem Gegenüber zu sprechen, und neigte sich leicht herüber.
»Sie recherchieren ein bisschen. Sind Sie nicht Arzt?« Wulf Geroldsen verzog den Mund.
»Wenn Sie von den Fällen wissen, dann muss Ihnen auch klar sein, dass es Parallelen zum Fall Ihres Sohnes gibt.« Mark hatte beschlossen, dem Mann nicht zu erklären, wie er in den Fall involviert war. Es würde nichts zu dessen Aufgeschlossenheit beitragen.
»Auch wenn Sie das anzunehmen scheinen, nicht alle Obdachlosen haben ein vom Alkohol zerfressenes Gehirn und kriegen nichts mehr auf die Reihe.«
»Das würde mir nicht in den Sinn kommen.«
»Ich kann es an Ihrem Gesicht sehen.« Ein verächtliches Prusten. »Jeder meint uns zu kennen. Wir Säufer sind doch alle gleich. Hirntote, die nur noch an die nächste Flasche oder den nächsten Schuss denken. Aber das ist ein Irrtum. Sehen Sie den Mann da drüben, mit der braunen
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