Das sechste Herz
und stattdessen einen Unbekannten erfunden, der die Taten begangen haben musste. Dieser Verdrängungsmechanismus war sogar erklärbar, schließlich war sein Sohn das Einzige, was ihm noch von seiner Familie geblieben war.
»Weil es keins gab!« Wulf Geroldsen holte tief Luft. »Natürlich war Magnus ein schwieriges Kind. Aber ein Mörder ist er nicht. Er sitzt jetzt schon zehn Jahre. Unschuldig!«
Mark nickte sein väterliches Nicken. Wenn er Informationen von dem Mann wollte, durfte er ihn nicht verprellen, indem er ihm sein Fantasiegebilde zerstörte. Hinzu kam, dass Wulf Geroldsens vehementes Leugnen der Tat seines Sohnes nichts daran änderte, dass er mittlerweile wieder ein wacher und aufmerksamer Mann war, der wahrscheinlich einige Details aus der Kindheit von Magnus berichten und klarstellen konnte. Wenn er es denn wollte. Das Beste würde es sein, sich Geroldsens Selbsttäuschung zunutze zu machen und sie für die Befragung zu verwenden. Mark nutzte eine Atempause seines Gegenübers und begann in ruhigem Tonfall zu sprechen.
»Sie haben mich gefragt, was ich von Ihnen will. In den vorliegenden aktuellen Fällen kann Magnus keinesfalls der Täter sein, denn er befindet sich nach wie vor in Obersprung. Was aber, wenn es eine Beziehung zwischen den Taten von damals und heute gibt? Wenn wir davon ausgehen, dass Ihr Sohn es damals nicht gewesen ist, könnte doch der frühere Täter wieder aufgetaucht sein und die Serie fortsetzen.«
»Und wo soll der bitte in der Zwischenzeit gesteckt haben?« Wulf Geroldsen hatte sich aufgerichtet. Seine Augen funkelten.
»Vielleicht im Ausland? Oder im Gefängnis wegen anderer Straftaten? Das ist ja im Moment auch irrelevant. Der Mörder aus Leipzig muss, wenn man die auffälligen Parallelen betrachtet, irgendetwas mit dem damaligen Fall zu tun haben.« Mark vermied es bewusst, die grausigen Details zu benennen oder Magnus Geroldsen als Täter zu bezeichnen. Wulf Geroldsen sollte den Eindruck haben, dass das hier eine sachliche Diskussion über mehrere Morde war, mit denen er nur entfernt zu tun hatte. Gerlind Dörfler war inzwischen mit ihrem Stuhl herübergerückt und saß faktisch mit am Tisch.
»Es muss jemand sein, der unsere Familie kannte. Besonders Magnus.« Wulf Geroldsen schaute in die Ferne. Er schien den Köder geschluckt zu haben. »Das würde auch erklären, warum er ihm die Schuld so einfach in die Schuhe schieben konnte.«
»Sie sagten vorhin, Magnus sei ein schwieriges Kind gewesen. Was meinten Sie damit? Gab es jemanden, der ihn negativ beeinflusst hat?«
»Ach, keine Ahnung.« Wulf Geroldsen wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Ich wüsste nicht, dass da jemand gewesen wäre. Allerdings war ich nicht so oft zu Hause und habe kaum Zugang zu Magnus gefunden. Er war ein problematischer Junge. Von Anfang an. Das ist wohl so beim ältesten Kind. Vielleicht fühlte er sich auch zurückgesetzt, als die Geschwister kamen. Ich war viel zu viel unterwegs, immer am Arbeiten und Regine, nun … Regine war überfordert und hatte ihre eigenen Probleme. Auch die Besuche beim Seelenklempner haben nichts gebracht. Entschuldigung.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Sie sind ja auch einer.«
»Ihr Sohn war in Therapie?«
»Ich glaube, so kann man das nicht nennen. Als die Schwierigkeiten mit ihm zunahmen, hat Regine beschlossen, mit ihm zu einem Kinderpsychologen zu gehen. Nach ihren Worten hat Magnus sich nicht nur seltsam benommen, sondern war regelrecht böse. Immer, wenn er glaubte, unbeobachtet zu sein, habe er seine Geschwister geärgert, Dinge gestohlen und gelogen. Ich glaube, Regine hat maßlos übertrieben, aber sie war nicht davon abzubringen, dass der Junge krank war und professionelle Hilfe brauchte.«
Mark betrachtete Wulf Geroldsen, während dieser redete. Die Augen des Mannes glühten jetzt regelrecht, die Wangen waren gerötet. So, wie er die Sache darstellte, waren Magnus’ Probleme harmlos gewesen, wahrscheinlicher aber schien, dass all dies schon damals Anzeichen seiner SASA , der »schweren anderen seelischen Abartigkeit« waren. Der Mann hatte gesagt, seine Frau habe »ihre eigenen Probleme« gehabt. Womöglich gab es eine erbliche Komponente. Mark nahm sich vor, den Gedanken nicht zu vergessen.
»Bei welchem Kinder- und Jugendpsychiater war er? Wissen Sie das? Und wie alt war Magnus zu Beginn?«
»Da muss er so um die vierzehn, fünfzehn gewesen sein. Bei wem sie waren, weiß ich nicht. Um solche Dinge hat sich immer Regine
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