Das sechste Opfer (German Edition)
dass du diesen ganzen Mist nicht mehr sehen willst.«
Ich nickte. Was meinte sie damit?
Unbeirrt fuhr sie fort: »Weißt du, wenn jemand stirbt, der noch so jung war wie wir, dann fange ich immer an nachzudenken. Vielleicht... vielleicht brauchen wir beide mal eine kleine Auszeit, um wieder zur Besinnung zu kommen. Ich weiß nicht, vielleicht ist das alles eigentlich gar nichts wert – meine Karriere, das Geld. Ich weiß nicht. Das Leben ist so kurz.«
Sie sah mich nachdenklich an.
Ich nickte. Ich wollte momentan wirklich raus hier. Alles wirkte plötzlich so unwirklich und fremd. »Vielleicht können wir neu anfangen, was meinst du? Wir lassen das alles hinter uns und machen etwas ganz anderes.«
Sie lächelte leise. »Das klingt verlockend.«
»Das ist mein Ernst. Wir könnten etwas völlig Neues aufbauen. Ich würde einen Vollzeit-Job in einer gutgehenden Firma annehmen, wie du immer wolltest, und du bleibst zu Hause und machst, was du willst. Du kannst von hieraus arbeiten, Kundenbesuche machen oder so, und irgendwann hast du vielleicht doch Lust auf ein Kind.«
Sie legte den Kopf schief und lächelte wieder. »Nun mal langsam mit den jungen Pferden, Herr Mustermann. Das mit deinem Vollzeitjob finde ich schon mal sehr gut, aber am Rest müssen wir noch arbeiten.«
Sie wandte sich zur Terrassentür und trat hinaus. Ich folgte ihr.
Es war frisch draußen. Ein feuchter Wind wehte durch die Blätter und ließ sie rauschen. Hinter den Wolken zeigten sich schmale Streifen von Orange, die bewiesen, dass dahinter eine Sonne war, die gerade unterging.
Ich wollte das heikle Thema nicht schon wieder anschneiden, deshalb schwieg ich lieber. Offenbar hatte sie nichts gefunden, falls sie nach Spuren meiner Liaison mit Clara gesucht hatte. Und so friedlich sollte es auch bleiben. Auch Nicole schien keine Lust auf einen Streit zu haben. Gemeinsam verbrachten wir einen ruhigen Abend, jeder in Gedanken und in seinen Schmerz vertieft.
Als ich später im Bett lag, kam der Schlaf nur zögerlich. Noch immer arbeitete es in meinem Hirn mit Hochdruck, denn ich dachte wieder an Franz und seinen Tod. Woran war er gestorben? Er hatte wirklich nicht gesund gelebt, aber so ein Ende hatte er nicht verdient. Es war eindeutig zu früh, er war erst 36 Jahre alt. Ich beschloss, morgen bei der Gerichtsmedizin nach dem Autopsiebericht zu fragen, um zu erfahren, ob er vielleicht krank gewesen war, einen Tumor hatte oder etwas Ähnliches. Ich glaubte nicht, dass ich mich dadurch besser fühlen würde, aber wenigstens hatte ich etwas zu tun.
Irgendjemand müsste auch seinen Schreibtisch in der Redaktion leer räumen, um Platz für den hoffnungsvollen Nachwuchs zu schaffen. Vielleicht würde ich das ebenfalls morgen erledigen und dabei auch die Akten mitnehmen. Mit denen konnte außer mir sowieso niemand etwas anfangen.
Plötzlich saß ich steil aufrecht auf dem Sofa. Die Akten!
Ich sprang auf und ging in mein Arbeitszimmer, wo ich die Schreibtischlampe anschaltete. Bis gestern hatten sie noch im unteren Schubfach meines Schreibtischs gelegen, doch jetzt waren sie weg. Heute Nachmittag war ich so von dem geöffneten Schubfach und der Panik um Claras Notizbuch abgelenkt worden, dass mir ihr Fehlen nicht auffiel, aber jetzt bemerkte ich es. Ich sah vorsichtshalber unter dem Schreibtisch nach und in allen Schubläden, unter allen Büchern und Ordnern, aber sie blieben verschwunden. Und auf einmal wusste ich, dass ich Franz' Akten nicht in der Redaktion finden würde.
Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken und wieder spürte ich das seltsame Gefühl, dass mich meine Wohnung beobachtete und als Feind betrachtete. Jemand war hier gewesen und hatte die Akten gestohlen, genauso wie er bei Franz war und seine mitgenommen hatte.
Ich schluckte. Was ging hier vor sich?
Steif stand ich auf und lief durch die Wohnung, um nachzusehen, ob noch mehr fehlte, aber sonst schien alles an seinem Platz zu sein.
Ich untersuchte die Eingangstür nach Einbruchsspuren, doch ich fand nichts. Der Eindringling musste einen Schlüssel besessen haben.
Dann versuchte ich zu rekonstruieren, was in den Akten stand, doch mir fiel nichts Brisantes auf, was einen Einbruch rechtfertigen könnte. Oder ich hatte es nur noch nicht entdeckt. Franz hatte ja immer geglaubt, dass mehr dahinter steckte, während ich es bezweifelte. Aber jetzt geriet meine Überzeugung ins Wanken. Was, wenn er Recht hatte? Was, wenn es wirklich einen Zusammenhang zwischen all den Unfällen gab, der mir
Weitere Kostenlose Bücher