Das sechste Opfer (German Edition)
Lebens unwiederbringlich verloren war. Dass meine Welt ohne ihn viel kälter und auch einsamer sein würde.
Ich parkte mein Auto wieder in der Nebenstraße, dann ging ich ins Haus. Aus dem Fahrstuhl kam mir ein dicker Mieter in einem schlampigen Jogginganzug entgegen. Er nickte kurz auf meine Begrüßung. Dann fuhr ich nach oben und versuchte dabei, nicht zu tief zu atmen. Oder das Atmen ganz sein zu lassen, denn der Fahrstuhl stank nach seinen Ausdünstungen. Erst als ich in meiner Wohnung stand, holte ich wieder tief Luft. Doch sobald ein paar Kubikzentimeter Luft meine Lungen füllten, hielt ich sofort inne. Es roch auch seltsam in meiner Wohnung. Nicht unangenehm nach ungewaschenem Mann, Müll oder angebranntem Essen. Auch nicht nach einem kaputten Abflussrohr im Badezimmer oder nach Hundekot an den Schuhen. Es roch einfach nur fremd.
Ich ging tiefer in die Wohnung und stellte fest, dass ich mich überhaupt nicht wohl fühlte darin. Es war, als hätten sich meine eigenen vier Wände in ein feindliches Wesen verwandelt, das mich beobachtete und auf einen Fehler von mir lauerte.
Es war kaum zu beschreiben. Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten, ohne dass ich sagen konnte, was anders oder merkwürdig war. Auf dem Sofa lag noch immer mein Bettzeug, in der Küche Nicoles Zettel, im Badezimmer hingen meine Handtücher feucht über der kalten Heizung. Da war nichts Fremdes.
Ich schüttelte den Kopf über meine Wahnvorstellungen und ging in die Küche, um nach dem Essen zu sehen, das Nicole angekündigt hatte. Als ich einen Blick auf die Uhr warf, stellte ich fest, dass meine Frau gleich nach Hause kommen musste und wir dann gemeinsam essen konnten. Also schob ich es zurück in den Kühlschrank und ging in mein Arbeitszimmer und setzte mich an meinen Rechner. Ich rief die Aufzeichnungen über meine Recherchen auf den Bildschirm, die ich im Verlauf der vergangenen Tage von meinem Notizbuch in den Computer übertragen hatte, und las mir ein paar Seiten durch. Die Geschichte hatte plötzlich einen faden Beigeschmack bekommen. Mit Franz' Tod im Hinterkopf schmeckte sie nach abgestandenem Abwaschwasser. Es schien, als wäre mit Franz die Seele meines Buches gestorben. Auch der Gedanke an Clara konnte mich kaum zurückhalten, nicht alles zu markieren und dann auf »Löschen« zu drücken. Ich fühlte mich leer und hohl, und genauso sah ich plötzlich auch mein Buch.
Mit einer kurzen Bewegung markierte ich tatsächlich alle Seiten, samt allen Ergebnissen meiner Interviews, und wollte den Cursor gerade auf »Löschen« bewegen, als ich im Augenwinkel bemerkte, dass an meinem Schreibtisch etwas anders war. Zu dunkel.
Ich sah nach unten, zu der Stelle, wo es so merkwürdig dunkel schimmerte, und hielt den Atem an. Die unterste Schublade stand ungefähr einen Zentimeter offen. Die Schublade, in der unter dem Jagdgewehrkatalog meine Geheimnisse lagen. Ich zog die Schublade ganz auf und kontrollierte ihren Inhalt. Es war noch alles da: die Waffenkataloge, ein paar unwichtige Unterlagen von Firmen. Claras Notizbuch hatte ich bereits vor Tagen herausgenommen, weil ich es inzwischen täglich benutzte. Hatte Nicole es etwa gesucht?
Ich nahm die Unterlagen heraus, um nachzusehen, ob sie vielleicht darin gestöbert hatte, als ich Nicoles Schlüssel im Schloss hörte.
»Ich bin hier«, rief ich und ging ihr entgegen. Ich musste ihr auf den Zahn fühlen.
Sie begrüßte mich mit einem liebevollen Kuss. Beim gemeinsamen Aufwärmen des Essens erzählte ich ihr von meinem Tag und dass ich ihren Rat befolgt und meinen Artikel für diese Woche abgesagt hatte. Dann fing ich vom vergangenen Abend und der darauffolgenden Nacht an. Vorher war die Schublade noch fest geschlossen gewesen.
»Ich war ja ganz schön hinüber gestern.«
Sie lächelte verständnisvoll. »Wenigstens hast du nichts vollgekotzt.«
»Wann bist du ins Bett?«
»Gegen elf. Als du schon friedlich geschnarcht hast. Du schnarchst wirklich mehr, wenn du Alkohol getrunken hast, das ist auffällig.«
»Vielleicht lag es auch an dem unbequemen Sofa.«
»Nein, das ist mir schon vorher aufgefallen. Abends gibt es in Zukunft keinen Alkohol mehr.«
Sie lächelte wieder mit einem sanften Blick, aber ich war mir nicht so ganz sicher, ob ihr letzter Satz nicht bitterer Ernst war. Ich muss wohl etwas kläglich ausgesehen haben, denn sie legte mitfühlend ihre Hand auf meinen Arm und sagte eindringlich: »Peter, wenn du hier mal raus willst, dann sag es. Ich kann mir vorstellen,
Weitere Kostenlose Bücher