Das sechste Opfer (German Edition)
in eine bessere Position gebracht hätte. Ich ging in die Knie und berührte seine Hand. Sie war eiskalt und fühlte sich an wie ein Stück altes Fleisch in der Metzgertheke.
Auf einmal flimmerten alle wichtigen Situationen, die ich mit Franz erlebt hatte, durch mein Hirn. Unser Kennenlernen bei dem langweiligen Seminar, der Spaß, den wir zusammen mit unserer Zeitschrift hatten, unsere hitzigen Debatten vor dem Aus dieser Zeitschrift, die tausend Biere, die wir zusammen getrunken hatten, als es kurz vor meiner Hochzeit Probleme mit Nicole gab, die Nächte, die ich in seiner Wohnung auf der Gästecouch verbracht hatte, seine unglückliche Liebesgeschichte mit einer Journalistik-Studentin, die ihm den Kopf verdreht und dann sitzen gelassen hatte.
Ich hatte immer gedacht, dass ihn eines Tages die Arbeit umbringen würde. Er war verrückt nach seiner Arbeit. Ich kannte keinen, in dessen Leben der Beruf so eine große Rolle gespielt und es komplett ausgefüllt hätte. Als ich Franz gerade kennen gelernt hatte, fragte ich ihn einmal, was er erreichen wolle, und er antwortete mir, den Regino-Preis oder den Henri-Nannen-Preis gewinnen. Er schuftete wie ein Wahnsinniger, so dass er eines Tages wirklich für eine Serie über Väter, denen die Kinder von den Ex-Frauen weggenommen wurden und die nun verzweifelt um das Sorgerecht kämpften, für den Henri-Nannen-Preis nominiert wurde. Er gewann ihn auch, doch statt sich bei der Verleihung des Preises feiern zu lassen, war er zu diesem Zeitpunkt bei der Verhaftung des Kannibalen von Rotenburg dabei. Sein Redaktionsleiter nahm den Preis in seinem Namen entgegen. Seitdem lag er in irgendeiner Schublade in Franz' Arbeitszimmer und schimmelte vor sich hin. Franz ging es im Prinzip nie um irgendeinen Preis, es ging ihm immer nur um die Arbeit an seinen Geschichten.
Mein Fuß stieß aus Versehen an das Glas am Boden und der Faden der Erinnerungen riss ab. Ich begann mich zu fragen, woran er eigentlich gestorben war. Es gab keine offensichtlichen Verletzungen, keine Blutlache, keine Wunden oder Verfärbungen auf der blutleeren Haut. Doch wirkte sein Gesicht schmerzverzerrt, seine Hände waren verkrampft, an seinem Mund klebte eine grünliche Kruste, die auch auf dem Schlafanzug zu finden war. Sein Tod schien nicht friedlich und schmerzlos verlaufen zu sein. Mehr würde sicher einer seiner Freunde in der Gerichtsmedizin herausfinden.
Draußen war eine Sirene zu hören, danach klingelte es an der Tür.
Ich stand auf und öffnete. Nur wenig später sahen sich drei Beamte vom Kommissariat für Leib und Leben in Franz' Wohnung um, ein Rechtsmediziner und ein Assistent der Staatsanwaltschaft untersuchten Leiche und Wohnung nach Spuren, machten ein Foto nach dem anderen, befragten mich nach meiner Berechtigung, an diesem Ort zu sein, meinem Verhältnis zu Franz und seinen Lebensgewohnheiten. Als sie damit fertig waren, notierten sie meine Anschrift und Telefonnummer und schickten mich nach Hause.
Ich wollte nicht weggehen und Franz seinem Schicksal überlassen, doch sie blieben hartnäckig. Erst als sie meinen Freund in einen schwarzen Plastiksack verfrachteten und aus der Wohnung brachten, folgte ich ihren Anweisungen.
Meine Hände zitterten, als ich in meinem Auto saß und Nicole anrief. Sie war geschockt, als ich ihr von Franz' Tod erzählte, und versprach, dass sie sofort nach Hause kommen würde.
Zu Hause angekommen, hielt es nicht mehr aus, rannte zur Toilette. Irgendwann ging ich in die Küche, setzte mich auf einen Küchenstuhl und wartete unbeweglich, bis Nicole erschien.
Ich bin in meinem Leben erst dreimal richtig betrunken gewesen. Das erste Mal zu meiner Konfirmation, als ich mich mit meinem Freund aus der Jugendgruppe mit zwei Flaschen Wein in den Speicher über der Backstube zurückzog, um der langweiligen Feier im Garten zu entgehen. Nachdem mein Vater uns gefunden und zurück zur Feier gebracht hatte, übergab ich mich in die Reisetasche meiner Tante aus Nürnberg und musste dreimal eiskalt duschen. Die nächsten Tage wurde mir schon schlecht, sobald ich nur das Wort »Wein« hörte.
Das zweite Mal mit Franz, nachdem uns die Bank den Kredit für unsere Zeitschrift bewilligt hatte. Wir saßen in einem 5-Sterne-Restaurant und ließen uns den besten Whisky kommen, den das Haus zu bieten hatte. Danach fielen wir in einer Kneipe ein. Dort schmeckte der Whisky zwar nicht halb so gut wie in dem Nobelrestaurant, aber das bekamen wir schon nicht mehr mit. Als der Laden Feierabend
Weitere Kostenlose Bücher