Das sechste Opfer (German Edition)
schon vorhin hätte auffallen müssen. Woher hatte die Polizei meine Fingerabdrücke, so dass sie die mit denen am Tatort vergleichen konnten? Ich war ein unbeschriebenes Blatt bei der Polizei, niemals aktenkundig, völlig unauffällig und unbedarft. Meine Fingerabdrücke durften bei denen gar nicht gespeichert sein!
Jetzt richtete sich auch Hauptkommissar Bechthold auf, nahm die Waffe und sah mich an.
Kommissar Schmitz sah zum Staatsanwalt, der leicht mit dem Kopf nickte. Danach kam er auf mich zu.
In diesem Augenblick stand ich wieder vor einer Entscheidung, die große Auswirkungen auf mein weiteres Leben haben würde. Entweder ich ergab mich und ließ mich verhaften, um dann zu versuchen, meine Unschuld zu beweisen. Oder ich rannte weg.
Als Schmitz mir zurief »Herr Mustermann, bitte bleiben Sie stehen«, hatte ich meine Entscheidung getroffen. Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte weg, so schnell mich meine Beine trugen. Als ein Schuss ertönte, war ich bereits um die Ecke und rannte und rannte.
Ich drehte mich nicht einmal um, sondern rannte einfach weiter. Durch die Gärten, über kleine Nebenstraßen und die Hauptstraße. Meine Lunge kämpfte mit der ungewohnten Anstrengung, mein Herz raste, so dass ich das Gefühl bekam, sämtliche Organe wollten ihren Dienst versagen, inklusive meiner Lunge und der Füße, die automatisch liefen und liefen – wie aufgezogen.
Erst hörte ich noch Schritte hinter mir, doch irgendwann waren sie verstummt. Als ich einen kleinen Weg erreichte, der in den Wald führte, drehte ich mich endlich um. Hinter mir war niemand, ich hatte die Verfolger abgehängt. Aber für wie lange?
Wieder kroch die Panik in mir hoch. Mit der Flucht machte ich mich natürlich noch verdächtiger, aber das würde an meiner Lage auch nichts ändern. Sie wollten mich als Sündenbock.
Mein Herz pumpte wie wild, doch ich rannte weiter. Ich hatte keine Ahnung, wohin. Ich wollte nur weg. Als ich einen Mann mit seinem Hund sah, sprang ich erschrocken ins Gebüsch, weil ich vermutete, er sei einer meiner Verfolger, aber er entpuppte sich glücklicherweise als harmlos. Hinter jedem Strauch vermutete ich einen der Polizisten, so dass ich im Zickzack durch den Wald rannte.
Irgendwann streikten meine Füße, ich wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Ich lauschte, ob mich jemand verfolgte, aber ich hörte lediglich das Rauschen des Waldes und Vogelgezwitscher. Kein Zweig knackte.
Mein Atem ging unheimlich schnell, in meinen Ohren dröhnte es und mein Herz klopfte bis zum Hals. Erschöpft ließ ich mich auf den weichen Waldboden fallen und bemerkte mit erschreckender Klarheit, dass ich jetzt richtig ins Abseits manövriert worden war. Ich konnte nicht zurück in meine Wohnung, wo sich mein Ausweis, mein Pass, überhaupt jeglicher Besitz und die Beweise meiner Existenz befanden.
Ich war nicht nur allein, sondern ich besaß auch nur noch das, was ich auf dem Leibe trug.
Und ich war vogelfrei.
Auf der Flucht
Als die Dunkelheit hereinbrach, bewegte ich mich von der Stelle weg, an der ich mich vor Stunden fallen gelassen hatte, und suchte mir einen geschützten Platz unter einer Kiefer neben einer Hecke, die ziemlich dicht aussah. Darunter befand sich zartes, frisches Gras.
Ich kroch in meinen Unterschlupf und versuchte, nicht an den Hunger zu denken, der mir und meinem Magen inzwischen fürchterliche Qualen zufügte.
Als es Nacht wurde, begann ich auch noch jämmerlich zu frieren. Obwohl es bereits April war, schlich sich in die Nächte immer noch eine unerträgliche Kälte, die besonders unangenehm war, wenn man nur eine dünne Jacke über Hemd und Hose trug.
An Schlaf war nicht zu denken. Nicht nur wegen des unbequemen Lagers, sondern auch weil es in meinem Kopf rotierte und kreiste und ich in Gedanken unentwegt durchspielte, was passiert sein musste.
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum mich jemand lebenslänglich hinter Gitter bringen wollte. Hatte ich etwas herausgefunden, das gefährlich war? War ich also tatsächlich einer heißen Geschichte auf der Spur? Dieser Gedanke jagte mir in meiner gegenwärtigen Situation allerdings kein Adrenalin durch die Adern, sondern ich verfluchte den Tag, an dem ich damit angefangen hatte, im Todesfall Andreas Werner herumzustochern.
Wer, zum Teufel, steckte dahinter?
Als ich in der Ferne Hundegebell hörte, zuckte ich zusammen. Kamen sie etwa, um mich zu suchen?
In Windeseile kroch ich aus der Hecke und lief tiefer in den Wald hinein, bei
Weitere Kostenlose Bücher