Das sechste Opfer (German Edition)
der Dunkelheit keine so gute Idee. Die Zweige schlugen mir ins Gesicht, und einmal stürzte ich so schwer über eine Wurzel, dass ich dachte, mein Handgelenk sei gebrochen.
Ich gab auf und blieb an der Stelle liegen, an der ich hingefallen war. Das Hundegebell kam nicht näher.
Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt machen sollte. Ich konnte nicht zur Polizei, die würden mich sofort wegsperren und mir kein Wort glauben. Nach Hause konnte ich nicht, dort warteten sie auf mich. Zu Nicole nach Rostock fliehen konnte ich nicht, weil ich nicht einen Cent besaß, denn meine Karten, mein Scheckbuch, das lag alles zu Hause, und ins Ausland konnte ich aus diesem Grund schon gar nicht.
Als ich die mir verbliebenen Möglichkeiten durchdachte, wurde ich ruhiger, auch wenn mich der Gedanke daran, für immer in diesem Wald leben zu müssen, nicht gerade aufbaute. Aber langsam gewann die Logik wieder die Oberhand über das Chaos in meinem Kopf und ich resümierte noch einmal kühl und nüchtern meinen Fall. Ich überlegte bis ins Detail, was ich bisher herausgefunden hatte, angefangen bei dem Besuch bei Andreas Werners Witwe bis hin zu Grunevelds Erzählungen über eine mögliche Absprache in der Wirtschaft. Ich dachte an die Toten, die alle auf mysteriöse Weise ihr Leben verloren hatten, und daran, dass es zwischen ihnen irgendeine Verbindung geben musste.
Und auf einmal wurde mir klar, dass es völlig zwecklos war zu fliehen, denn irgendwann würden sie mich sowieso finden. Die einzige Möglichkeit, aus dem Dreck, in dem ich nun im wahrsten Sinne des Wortes steckte, wieder herauszukommen, war, mit meinen Nachforschungen weiterzumachen und die Lösung des Rätsels zu finden. Wenn ich herausfand, wie diese Fälle zusammenhingen, und davon war ich inzwischen felsenfest überzeugt, würde ich auch den Mörder von Grundeveld finden und konnte mich selbst vom Mordverdacht befreien.
Ich musste nur weiter recherchieren. Unauffällig und effektiv. Jedoch nicht hier im Wald, sondern in Berlin. Doch dazu brauchte ich Geld, andere Kleidung – und ein anderes Aussehen. Ich besaß zwar momentan weder das eine noch das andere, aber ich würde es mir besorgen. Koste es, was es wolle.
Noch nie in meinem Leben war ich so froh, die Morgendämmerung zu erleben. Nach den Stunden der Dunkelheit zeigte sich endlich ein heller Streifen am östlichen Horizont und die Vögel begannen zu zwitschern. Nun konnte ich mich an die Umsetzung meines Vorhabens machen. Allerdings musste ich sehr, sehr vorsichtig sein, und damit rechnen, dass Suchtrupps der Polizei im Einsatz waren, um mich aufzuspüren.
Zunächst versuchte ich, meinen Aufenthaltsort zu bestimmen, was jedoch leichter gesagt als getan war. Als ich aus dem Wald trat, sah ich vor mir nur Wiesen, auf denen ein paar Pferde grasten, und in einiger Entfernung Felder. Ich wusste nicht, wo ich war. Vermutlich irgendwo in Brandenburg.
Ich versuchte, mich daran zu erinnern, in welche Richtung ich gestern gelaufen war, und kam zu dem Schluss, dass ich im Süden Berlins sein musste. Mit etwas Mühe konnte ich schließlich im Nordosten die Schornsteine vom Kraftwerk Lichterfelde sehen, was meine Vermutung bestätigte.
Ich ging nun wieder gen Norden, auf die Stadt zu, und betrachtete im heller werdenden Licht meine Hände, Arme und die Kleidung, die zum Glück nicht ganz so schlimm aussahen, wie ich zuerst befürchtet hatte. In welchem Zustand sich das Gesicht befand, konnte ich jedoch nicht beurteilen. Ich hoffte nur, dass man mir nicht sofort ansah, dass ich auf der Flucht war.
Unterwegs überquerte ich einen kleinen Bach, der zwar nicht gerade einladend aussah, aber ich konnte es mir nicht leisten, wählerisch zu sein. Also wusch ich mir mit dem stinkenden Wasser das Gesicht und trank sogar einen kleinen Schluck. Es schmeckte besser als befürchtet.
Dann ging ich weiter, stets darauf bedacht, sofort auszuweichen und in einem Graben oder einem Gebüsch zu verschwinden, sobald ein menschliches Wesen in Sichtweite kam. Als ich eine große Wiese überqueren musste, wurde es gefährlich, aber glücklicherweise war keine Menschenseele zu sehen.
Dann zeigten sich die ersten Häuser. Im Westen ragten ein paar Plattenbauten in die Höhe, im Osten gab es Pferdekoppeln, hinter mir war die große Wiese, vor mir die Häuser, und von einem Weg, der in die Stadt führte, hörte ich plötzlich Stimmen und Schritte. Ich sah vorsichtig durch den Zaun und schreckte zurück. Es waren vielleicht dreißig Männer, uniformiert und
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