Das sechste Opfer (German Edition)
sondern ein leidlich erfolgreicher Autor, weil ich damals nach dem Studium nach Berlin gegangen war. Und dass ich mit Nicole verheiratet war, lag daran, dass ich mich damals durchgerungen hatte, dieses schreckliche Seminar zu besuchen, wo ich Franz kennenlernte.
Was wäre passiert, wenn ich mich damals anders entschieden hätte? Wer oder was wäre ich dann? Immer noch der Buchhalter meines Vaters, schon geschieden und mit drei Kindern, für die ich Unterhalt zahlen müsste? Oder hätte ich statt Franz ein paar Freunde, auf deren Yacht vor der Küste von Monaco ich jeden Sommer verbringe?
Dieses kleine Gedankenspiel machte ich ganz gerne, und ich vollführte es auch an diesem Morgen in meiner Wohnung. Und ich kam zu einem Ergebnis, das mich wütend werden ließ. Auf mich und auf eine andere Person, deren Rolle in diesem ganzen Drama ich noch nicht einmal annähernd verstand: Clara.
Mit ihr hatte alles angefangen. Mit dieser Nacht in ihrem Bett und als ich mir nachher von ihr die Geschichte über Andreas Werner einflüstern ließ. Dadurch war ich jetzt meine Frau los, war bei der Polizei verdächtig, einen Mann ermordet zu haben, und hatte wahrscheinlich Franz gleich mit auf dem Gewissen. Clara war die Person an der Kreuzung, die mich in eine falsche Richtung geschickt hatte. Und sie war nicht mehr hier, ich konnte sie nicht zur Rechenschaft ziehen.
Am liebsten wäre auch ich verschwunden. Irgendwohin, auf den Mond oder eine einsame karibische Insel, fern von Polizei und Mordverdacht. Aber das ging nicht. Zum einen, weil ich die Stadt nicht verlassen durfte, und zum anderen, weil ich keine Ahnung hatte, was gerade mit meinem Leben passierte. Was sollte das alles?
Wo war Clara?
Und was war eigentlich mit ihrem Geschäft?
Ich löste mich aus meiner Erstarrung und schnappte meine Jacke, um zu ihrem Laden zu gehen.
Auf dem Weg dahin wuchs meine Wut noch mehr, vor allem auf mich. Denn offenbar war ich so blind und dumm in diese Affäre mit ihr gestürzt, dass ich ohne nachzudenken gehandelt hatte. Wie ein liebeskranker Rüde war ich ihrer Fährte gefolgt und hatte alles andere um mich herum vergessen. Und nun musste ich die Konsequenzen tragen. Und ich fragte mich, ob Clara das nicht vorher geahnt oder sogar geplant hatte.
Der Laden war offen, aber leer. Mich beschlich die kleine Hoffnung, dass jetzt gleich Clara hinter dem Vorhang hervorkommen und mir lachend erklären würde, dass alles nur ein Spiel gewesen sei und ich nun gewonnen hätte. Aber sie kam nicht. Stattdessen schälte sich eine ältere Frau aus dem Vorhang und kam strahlend auf mich zu. Sie war über sechzig, hatte ein warmes, rundes Gesicht und lebhafte Augen. Ihr Gesicht wirkte jünger als ihr Körper. Sie ging etwas gebückt, und ihre Hände waren von Gicht und Rheuma gekrümmt, so dass es ihr sicher Schwierigkeiten bereitete, abends die Einnahmen zu zählen.
»Was kann ich für Sie tun?«
Trotz ihres Leidens klang ihre Stimme hell und kräftig.
»Ich habe eine Frage. Sind Sie die Besitzerin des Ladens?«
»Ja, bin ich. Sind Sie vom Hauseigentümer geschickt? Ich werde den Laden behalten. Ich hab's mir überlegt.«
»Nein, ich habe mit dem Hauseigentümer nichts zu tun. Ich wundere mich nur, weil in den letzten Wochen jemand anderes hinter dem Tresen stand.«
»Oh ja, das war Clara. Eine wunderbare Frau.« Ihre Augen begannen zu leuchten. »Sie hat mich für ein Weilchen vertreten, damit ich zur Kur fahren konnte. Sie war so lieb, die junge Frau. Sie hat mir sogar Geld gegeben für die Kur. Ich hätte mir das doch sonst niemals leisten können, so lange weg zu sein. Drei Monate!«
»Und geht es Ihnen besser?« Ich versuchte, höflich zu sein.
»Ja, ja, deshalb kann ich das Geschäft auch behalten. Ich hatte befürchtet, dass ich es aufgeben müsste, weil ich es nicht mehr allein betreiben konnte. Ich werde nur noch vormittags öffnen, aber das schaffe ich bestimmt. Und dann werden wir sehen.«
»Kann Clara dann nicht den Rest der Zeit übernehmen?«
»Nein, sie ist nicht mehr hier, tut mir leid. Sie mögen sie wohl?« Die Alte zwinkerte mir zu. »Ja, sie ist eine hübsche Frau. Sehr attraktiv. Und ungebunden, glaube ich. Ich habe ihre Adresse nicht, falls Sie die haben wollen. Tut mir leid.« Sie zwinkerte wieder und strahlte wissend.
Ich lächelte etwas unbeholfen. »Sie kennen auch keinen Verwandten oder Bekannten von ihr, der mir weiter helfen könnte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe sie Anfang Februar kennengelernt. Sie suchte eine Stelle, als
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