Das sechste Opfer (German Edition)
bewaffnet.
Wieder kroch die Panik in mir hoch, nur dass ich dieses Mal nicht wusste, wohin ich fliehen sollte. Es gab nicht sehr viele Möglichkeiten, der Truppe auszuweichen. Eine bestand darin, über den Zaun eines Gartens zu klettern und am Haus vorbei Richtung Stadt zu flüchten. Das tat ich auch.
Mühelos stieg ich über den niedrigen Zaun, rannte in Deckung und fast lautlos über die Wiese mit ein paar Obstbäumen und einer Sonnenliege, um den knirschenden Kies auf dem Weg zu meiden, und lief hinter dem Haus weiter. Der nächste Zaun war etwas höher, doch auch den schaffte ich problemlos. Etwa zwanzig Meter rechts von mir zogen die Polizisten auf der Straße vorüber, doch sie bemerkten mich nicht. Als ein Hund auf dem Grundstück nebenan bellte, duckte ich mich schnell hinter den Komposthaufen und lief ein paar Sekunden später weiter. Sie hatten das Hundegebell auf sich bezogen und waren dadurch nicht auf die Idee gekommen, dass ihr Verdächtiger an ihnen vorbeischlich, was mich kurzzeitig aufatmen ließ.
Allerdings endete meine Glückssträhne in dem Moment, als ich wieder auf die Straße wollte, denn dort stand ein Polizist und bewachte die Kreuzung. Offenbar wussten sie, dass ich hier in der Nähe sein musste.
Also blieb mir nichts weiter übrig, als mich weiter von Garten zu Garten zu schleichen, Zäune zu überwinden und mich vor Hunden in Acht zu nehmen. Schließlich sah ich in einem der Gärten eine scheinbar vergessene Wäscheleine mit Kleidung zum Trocknen. Das karierte Hemd und der blaue Arbeits-Overall waren noch feucht von der Kühle der Nacht, aber das störte mich nicht. Ich griff zu.
Als ich schließlich zu einem Friedhof kam, setzte ich mich hinter einen breiten Grabstein und zog mich um. Ich überlegte, ein paar Tage hinter diesem Grabstein zu verbringen, bis ein Bart mein Gesicht verändern würde, aber die Gefahr der Entdeckung war zu groß. Denn die Leute, denen die nun leere Wäscheleine gehörte, würden sicherlich den Diebstahl melden und die Polizei daraufhin eins und eins zusammenzählen.
Ich entleerte meine schmutzige Hose, nahm den Zettel mit dem seltsamen Zeichen von Andreas Werners Handschuhfach und seinen Kugelschreiber, einen losen Knopf, von dem ich nicht wusste, zu welchem Kleidungsstück er gehörte, und eine alte Supermarktquittung, die ich darin fand, und steckte sie in den Overall. Dann warf ich die Hose in eine Mülltonne und verließ den ruhigen Ort. Vorher zupfte ich meine Haare ins Gesicht, um so viel wie möglich von meinem Anblick zu verstecken und hoffte darauf, im morgendlichen Berufsverkehr auf der Hauptstraße nicht entdeckt zu werden.
Ich hatte Glück.
Ein Polizist stand zwar an der Hauptstraße auf der anderen Straßenseite, aber er bemerkte mich nicht. Selbstbewusst mischte ich mich unter die Passanten, die zu ihren Arbeitsplätzen in der Bank und den Geschäften eilten, und passte mich ihrem Tempo an, um unentdeckt zu meinem Ziel zu kommen. Obwohl sich mir bei dem Gedanken, was ich jetzt vorhatte, schon der Magen umdrehte.
Ich wartete im Hauseingang nebenan, bis die alte Frau ihren Laden aufmachte. Als sie das Gitter vor der Tür hochzog, kam ich heraus und schlenderte ganz unauffällig an ihr vorüber. Sie bemerkte mich erst, als ich stehen blieb und ihr ein »Guten Morgen« zurief.
Jetzt sah sie mich und begann zu lächeln.
»Guten Morgen! Haben Sie sie gefunden?«
»Nein, habe ich nicht.« Ich blieb stehen.
Ihre munteren Augen waren voller Bedauern. »Das tut mir leid. Dabei würden Sie so gut zusammen passen.«
Ich lächelte skeptisch. »Aber vielleicht kommt sie ja noch mal her. Dürfte ich vielleicht meine Telefonnummer hier lassen, damit Sie sie ihr geben, falls sie sich mal meldet?«
»Aber natürlich! Das ist eine gute Idee. Kommen Sie rein!«
Clara hatte natürlich meine Nummer, aber als ich im Laden stand, war ich am Ziel meiner Wünsche.
Die Alte ging hinter den Tresen und holte ein Stück Papier und einen Stift hervor, die sie mir reichte.
Ich sah sie an. »Sie haben nicht vielleicht auch einen Schluck Wasser für mich?«
Sie nickte sofort. »Natürlich. Einen Moment.«
Dann verschwand sie hinter dem Vorhang, Als ich das Klirren eines Glases hörte, sprang ich hinter den Tresen und öffnete die Kasse, wie ich es bei Clara gesehen hatte. Dann nahm ich alles, was ich darin fand, auch einen Briefumschlag, in dem sich offenbar ein paar Scheine befanden, und rannte aus dem Laden, bevor die alte Frau wieder hinter dem Vorhang hervorkam.
Ich fühlte
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