Das Siebte Kind - Das Geschenk der Telminamas (German Edition)
diesen momentanen Zustand verändern kann - außer der Zustand verändert sich von selbst, was tatsächlich auch der Fall ist. Es gibt eine kontinuierliche aber ganz langsame Änderung, die nicht leicht wahrnehmbar ist. Genaueres kannst du später selbst nachlesen, um all das besser verstehen zu können. Jedenfalls bedeutet das, dass sich das Wetter auf der anderen Seite irgendwann einmal ganz von alleine bessern wird, wenn die Menschen wieder herzlicher zu einander werden.“
Sid ließ den Kopf hängen. Er war entsetzt und erleichtert zugleich. Es gab keine Hoffnung auf Sonne und Wärme mehr für seine Familie, aber er hatte alles versucht. Er hatte nicht versagt, weil er die Aufgabe, die ihm gestellt worden war, niemals hätte erfüllen können. Die Gesetze der Welt waren kein Zaubermittel, sie waren nur Aufzeichnungen von Gegebenheiten. Er musste also nicht zurück, denn es war sinnlos.
Nach einer Weile des Schweigens blickte Sid auf. „Ich möchte nicht mehr zurück, Maron. Wenn ich darf, dann bleibe ich hier bei euch“, sagte er leise.
„Ich habe nichts dagegen, Sid“, versicherte ihm Maron gutmütig. „Es ist allein deine Entscheidung, es gibt hier niemanden, der von dir eine Rückkehr verlangt.“ - „Nur um eins möchte ich dich bitten. Lies die Gesetze dennoch.“
„Es ist eine große Ehre für mich“, entgegnete Sid erfreut, doch dann erlosch seine Begeisterung so schnell wie sie entflammt war. „Ich kann doch nicht lesen“, murmelte er beschämt.
„Das werde ich dir in den nächsten Tagen und Wochen schon beibringen“, lächelte Maron zuversichtlich. „Am besten wir fangen gleich nach dem Mittagessen damit an.“
Und so war es. Die nächste Zeit verbrachte Sid fleißig damit, die verschiedenen Schriftzeichen verstehen zu lernen, die Maron ihm mit großer Geduld wieder und wieder erklärte. Dabei bedeutete ein Zeichen immer mehrere Worte oder beschrieb gar einen bestimmten Zustand.
Ein ganzer, arbeitsreicher Monat verging, in dem Sid des Öfteren daran zweifelte, dass er jemals lesen lernen würde, aber dann auf einmal begannen die vielen verschnörkelten kleinen Bildchen auf der ersten Seite der Gesetzessammlung Sinn zu machen. Und Sid war wie gefesselt von den Zusammenhängen, die es in seiner alten und neuen Welt zu entdecken gab. Bald wusste er Bescheid über den vorgegebenen Entwicklungsprozess, den alle Lebewesen durchliefen und der die Zeit und den Raum und alle Unterschiede überhaupt entstehen ließ.
Es war August geworden, als Sid eines späten Abends den Tempel verließ und über den freien Platz schritt. Müde von dem anstrengenden Lesen beobachtete er von hier oben, wie die Sonne langsam hinter dem westlichen Horizont abtauchte und mit ihr das goldene Licht, das den See der Freundschaft und den heiligen Wald überzog, immer mehr verschwand.
Gerade wollte er in seine Wohnung hinunter spazieren, da umschwirrten ihn mit einem Mal ein paar Telminamas, denen er zunächst nicht übermäßige Beachtung schenkte. Doch als sich eines dieser Geschöpfe auf seine Schulter setzte und seine winzige Hand nach ihm ausstreckte, blieb er abrupt stehen. Es war der Telminama seiner Mutter. Das elfenartige, kleine Ding strich ihm zärtlich über die Wange und dann gesellte es sich wieder zu seinen Gefährten, in denen Sid zu seinem großen Erstaunen die getreuen Abbilder seines Vaters und seiner fünf Geschwister erkannte. Aber es war da noch ein anderer Telminama. Eine winzige, junge Frau schwebte direkt vor Sids Gesicht und lächelte ihn an. Sie kam näher und küsste ihn leicht auf die Stirn, dann zwinkerte sie ihm noch einmal zu und verschwand mit den anderen so plötzlich, wie sie auch gekommen waren. Sid stand eine lange Zeit wie erstarrt da. Er hatte seit langer Zeit erstmals seine Familie wiedergesehen, wenn auch nur ihre „Erinnerungen“. Sein Herz schmerzte ihn so sehr, als hätte es gerade einen großen Riss bekommen. Als er dann betrübt die Stockwerke hinunter zu seiner Wohnung stieg, rannen ihm heiße Tränen über das Gesicht. Auch noch als es schon längst finster geworden war, weinte er um die Mutter, die er von allen am meisten vermisste. Eigenartiger Weise fühlte er eine fast ebenso starke Sehnsucht nach der jungen Frau, obwohl er ihr auf der anderen Seite doch noch nie zuvor begegnet war.
Am nächsten Morgen allerdings zwang sich Sid, die Begegnung vom vergangenen Abend so gut es ging aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er konnte das Wetter nun mal nicht
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