Das Siebte Kind - Das Geschenk der Telminamas (German Edition)
besaß Sid keine ruhige Minute mehr. Er konnte es nicht ertragen, tatenlos hier drüben zu bleiben. Er wollte irgendwie versuchen, seine Familie zu retten, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er das anfangen sollte.
Kurz nachdem Hilgaard den Tempel verlassen hatte, fragte er Maron aufgewühlt nach dem Rückweg in seine Heimat.
„Ja, es gibt einen Weg zurück auf die andere Seite“, erklärte ihm Maron. „Er führt über einen Fluss, den Fluss des Vergessens, der jede Erinnerung an unser Land auslöscht.“
„Wo kann ich den finden?“, erkundigte sich Sid wissbegierig.
„Nun, wenn man hier am Seeufer entlang immer Richtung Westen läuft, dann kommt man nach einiger Zeit an eine große Flussmündung. Diesen Wasserstrom nennt man den Fluss des Vergessens“, erklärte Maron ihm mit nachdenklicher Stimme. „Aber weißt du, Sid, ich bin nicht vollkommen sicher, ob du die Grenze ungehindert passieren kannst, denn normalerweise geht hier niemand so schnell wieder fort wie du. Und wenn, dann nur, um das Leben drüben wieder von vorne zu beginnen. Aber bei dir ist es vermutlich anders.“
„Ich werde es versuchen. Ich muss“, antwortete Sid entschlossen und presste die Lippen fest aufeinander.
Einen langen Moment blickte Maron Sid mit seinen fast goldbraunen, gutmütigen Augen forschend an, dann legte er ihm sanft die Hand auf die Schulter. „Bevor du gehst, möchte ich dir noch etwas mitgeben“, sagte er mit sehr viel Gefühl in der Stimme. „Komm, ich zeige dir was.“
Gespannt folgte Sid Maron durch den hell erleuchteten Tempel.
„Du hast mich auf eine Idee gebracht“, sagte Maron, als er nach einer Weile vor einem Raum Halt machte, der auf den ersten Blick ziemlich düster erschien.
„Ich?“, entgegnete Sid erstaunt.
„Ja, als du mich heute Mittag nach den Telminamas gefragt hast.“ - „Wie du weißt, holt ein Telminama seinen Menschen drüben ab, wenn die Zeit reif ist. Die beiden verschmelzen genau in dem Augenblick miteinander, in dem sie gemeinsam in das Land des ewigen Lebens eintreten.“
Sid nickte.
„Ich habe einige Telminamas gefragt, ob sie dich begleiten würden.“
Sid starrte Maron an und wagte nicht zu atmen.
„Sie haben zugestimmt.“ - „Sie schweben drüben unsichtbar neben dir her und warten auf deine Anweisung. Wenn du sie freigibst, werden sie ihren jeweiligen Menschen zu uns herüber bringen.“
Sids Kopf arbeitete langsam wie eine Schnecke. War das wirklich war? Konnte er so seine Familie befreien und den Nebel doch noch besiegen?
„Du kannst entscheiden, was richtig ist, Sid“, mahnte ihn Maron mit ernster Stimme. „Aber denke daran, was ich dir gesagt habe. Der König ist nicht allein. Er hat viele, die ihm auf den Thron nachfolgen wollen. Und keiner von ihnen ist recht viel besser als Lergos.“
Er trat in den finsteren Raum und winkte Sid, ihm zu folgen.
Mit pochendem Herzen setzte Sid einen Fuß über die Schwelle, und dann sah er sie: Nahezu hundert Telminamas warteten auf ihn, allen voran der kleine, bläulich schimmernde König.
S iedend heiß fiel Sid plötzlich der Fluss des Vergessens ein. „Wenn ich doch alles vergessen werde, wie soll ich mich an deine Worte erinnern oder an die Telminamas und die Gesetze, die ich lesen durfte?“
„Darum brauchst du dir keine Sorgen machen, Sid. Wenn du die Grenze passieren kannst, werde ich mich darum kümmern, dass du dich an alles erinnerst“, beruhigte ihn Maron.
Als Sid wenig später den Tempel verließ, um sich für den morgigen Aufbruch auszuruhen, schwirrten über ihm die vielen elfenartigen Wesen, die mit ihm das Land des ewigen Lebens verlassen würden. Bei ihrem Anblick wurde Sid ganz eigenartig zu Mute. Von nun an hielt er all diese Menschenleben in seinen Händen. Er war plötzlich ein mächtiger Zauberer, vor dem sich sogar König Lergos fürchten musste.
Der nächste Tag brach an, und noch bevor es richtig hell war, saß Sid schon mit seinem vollgepackten Rucksack in einem kleinen Holzboot und ruderte am Seeufer entlang Richtung Westen. Die Waldstadt war schon längst verschwunden und immer noch brannte in Sid der Schmerz des Abschieds lichterloh. Maron war natürlich da gewesen und Beron und Wulf, als er vom kiesigen Ufer abgelegt hatte. Sid wischte sich mit dem Ärmel eine Träne aus dem Augenwinkel. Er würde sie wieder sehen. Vielleicht sogar schneller, als er es sich träumte, bei all den Gefahren, die auf der anderen Seite auf ihn warteten. Aber er hatte keine Angst mehr, egal, was
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