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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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jüngeren dachte, jetzt dachte er beinah nur noch an ihn. Wenn er nur ein Mittel gewußt hätte, um ihm zu helfen, dann hätte er weder sich selbst geschont noch seine Familie. Man fragte ihn zehnmal in seinem Betrieb, ist dieser Heisler mit dir verwandt? Und zehnmal erwiderte er im gleichen Ton, Schweigen um sich verbreitend: »Er ist mein Bruder!«
     
    Die Mutter hatte ehemals den älteren Bruder vorgezogen, zeitweise den jüngsten. Sie hatte auch sehr an dem Zweiten gehangen, der gut zu ihr war, vielleicht am besten von allen, in seiner dumpfen, einfältigen Art.
     
    Das galt jetzt alles nichts mehr. Denn umgekehrt, wie es sonst im Leben zugeht: je länger Georg weggeblieben war, je spärlicher man von ihm hörte, je weniger man nach ihm fragte, desto deutlicher wurden ihr seine Züge, desto genauer ihre Erinnerungen. Ihr Herz entzog sich den verschieden gearteten Plänen, den sichtbaren Hoffnungen der drei Söhne, die frisch um sie herum lebten. Es füllte sich nach und nach mit den Plänen und Hoffnungen des Abwesenden, fast Verschollenen. Sie saß nachts im Bett, sie stellte sich all die Einzelheiten vor, die ihr längst entfallen waren: Georgs Geburt, die kleinen Unfälle seiner ersten Jahre, die schwere Krankheit, als sie ihn beinahe verloren hätte, die Kriegszeit, als sie Granaten gedreht hatte und sich allein mit den Söhnen durchgeschlagen und Georg einmal angezeigt worden war wegen einem Felddiebstahl, die kleinen Triumphe, an die sie sich immerhin halten konnte, der dünne Lohn – ein Lehrer, der ihn gelobt hatte, ein Meister, der ihn anstellig fand, ein Sieg bei einem Sportfest. Sie erinnerte sich seines ersten Mädchens, halb stolz, halb ärgerlich, und all der Mädchen, die er später gehabt hatte. An jene Elli, die ihr ganz fremd geblieben war. Sie hatte ihr nicht mal das Kind gebracht, und dann – die jähe Veränderung seines Lebens! Nicht, daß er etwas Fremdes in die Familie gebracht hätte! Nur, was bei dem Vater und bei den Brüdern ein einzelner Wesenszug war, ein hingeworfenes Wort, mal ein Streik – mal ein Flugblatt, das war dann bei ihm das Ausschlaggebende, das ganze Wesen.
     
    Als hätte ihr jemand beweisen wollen, du hast ja nur drei Söhne, dieser vierte soll gar nicht geboren sein, er soll überhaupt nie gelebt haben, erfand sie tausend Gegenbeweise. – Wie viele Stunden hatte der Heini erklärt, die Gasse sei abgeriegelt, die Wohnung bewacht, die Gestapo auf dem Posten. Sie müsse an ihre übrigen Söhne denken.
     
    Sie gab jetzt diese drei Söhne auf. Die mußten sich selbst helfen. Nur den Georg gab sie nicht auf. Der Zweitälteste Sohn beobachtete, wie seine Mutter fortwährend die Lippen bewegte. Sie dachte: Mein Gott, du mußt ihm helfen. Wenn es dich gibt, hilf ihm. Wenn es dich nicht gibt … Sie wandte sich ab von dem Ungewissen Helfer. Sie warf ihr Gebet an alle hinaus in die Gesamtheit des Lebens, soweit sie es kannte, und auch in die ungewissesten, dunkelsten Zonen, wo ihr nichts bekannt war, wo es vielleicht aber doch noch Menschen gab, die ihrem Sohn helfen konnten. Vielleicht gab es da oder dort noch einen, den ihr Gebet erweichen konnte.
     
    Der Zweitälteste Sohn trat wieder an ihren Stuhl. Er sagte: »Ich hab’s nicht sagen wollen, solang der Heini da war, bei ihm weiß man nie. Ich hab mit dem Spengler Zweilein gesprochen …« Die Frau sah ihn lebhaft an. Sie stellte rasch ohne Mühe die Füße auf den Boden. »Der Zweilein wohnt geschickt, er kann auf zwei Gassen gucken. Der Georg kommt sicher vom Main her, wenn er kommt! Ich hab natürlich nicht richtig mit dem Zweilein gesprochen, nur mit Daumen und mit ‘nem Aug.«
     
    Er machte der Mutter vor, mit Daumen und Aug, was er mit dem Zweilein gesprochen hatte. »Das hat er dann auch so gemacht mit dem Aug und dem Daumen. Der Zweilein ist wach geblieben, er wird den Georg schon abpassen, damit er uns nicht in die Gasse reinrennt.«
     
    Bei diesen Worten leuchteten ihre Augen auf. Ihre Züge, die eben noch schlaff gewesen waren wie gezogener Teig, wurden fest und kräftig, als sei das Fleisch neu beseelt worden. Sie griff nach dem Arm ihres Sohnes, um sich vollends aufzurichten. Dann sagte sie: »Und wenn er doch von der Stadt her kommt?« Der Sohn zuckte die Achseln. Die Frau fuhr fort, mehr zu sich selbst: »Wenn er aber zum Lorchen raufspringt, die hält es mit dem Alfred, die werden ihn anzeigen.« Der Sohn sagte: »Ich möchte nicht drauf schwören, daß ihn die beiden anzeigen. Er wird aber vom

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