Das siebte Kreuz
er sich nicht erst hineinzudenken brauchte. Geld und Papiere, dachte Hermann, müßte man bald bereit haben. Seine Gedanken machten zum zweitenmal einen Ruck, rissen sich diesmal los von der Vorstellung eines einzelnen Menschen, der gehetzt war und da und dort auftauchen konnte. Er überlegte jetzt, ob er schon morgen an die einzige Stelle herankommen könnte, wo eine solche Besorgung für den äußersten Notfall möglich war. Das ist alles, was ich zunächst damit zu tun habe, und das werde ich tun, sagte er sich und beruhigte sich. In der Küche summte das Bienchen das »Mühlenrad«. Ohne die Else, sagte sich Hermann, war ich vielleicht doch weniger ruhig. So kommt alles allem zugute.
Franz warf sich auf sein Bett. Er war so müde, daß er in den Kleidern einschlief. Da war er wieder in der Mansarde mit Elli, den Abschied nachzuholen. Plötzlich hatte Elli einen Ohrring verloren, er war in die Äpfel gefallen. Da fingen sie an zu suchen. Er erschrak, weil die Zeit verfloß, aber der Ohrring mußte gefunden werden, und es waren gar viele Äpfel, alle Äpfel der Welt. »Da«, schrie Elli, aber der Ohrring schlüpfte nur durch wie ein Herrgottskäferchen, und das Gewühl in den Äpfeln ging weiter. Sie suchten auch nicht mehr zu zweit, alle halfen suchen. Die Frau Marnet wühlte in den Äpfeln herum und die Auguste und ihre Kinder und der alte Lehrer, der pensioniert war, und der kleine sommersprossige Röder. Ernst der Schäfer wühlte herum mit seinem roten Halstuch und seiner Nelli. Anton Greiner und sein SS-Vetter Messer, Hermann selbst suchte sogar in den Äpfeln herum und der Bezirksleiter aus dem Jahre 29. Was ist eigentlich aus dem geworden? Die Sophie Mangold suchte und das Holzklötzchen. Auch die dicke Kassiererin, mit der Franz den Georg erwischt hatte, gleich nachdem er von Elli weg war, wühlte schnaufend in den Äpfeln. Da fuhr es ihm durch den Kopf. Bei der kann er schließlich auch sein. Sie war schrecklich dick, aber hochanständig. Da waren die Äpfel aus und vorbei, er saß schon auf seinem Rad, er fuhr die Straße hinunter nach Höchst. Wie er erwartet hatte, stand die Kassiererin im Selterwasserhäuschen, hatte auch Ellis Ohrringe an, aber Georg kam gar nicht in Frage. Da flog Franz weiter auf seinem Rad in wachsender Angst, mehr gesucht als suchend. Bis ihm einfiel, daß Georg natürlich daheim war, wo auch sonst? Er saß natürlich in ihrem gemeinsamen Zimmer. Welche Qual, noch einmal heraufzugehen! Aber Franz nahm sich zusammen, er ging hinauf und hinein. Georg saß rittlings auf seinem Stuhl, die Hände vorm Gesicht. Franz fing an, sein Zeug zusammenzupacken, ihr gemeinsames Leben war nun zu Ende nach allem, was geschehen war, eine bittere Erinnerung. Georgs Blicke verfolgten ihn, jede Bewegung tat ihm weh, aber eingepackt mußte werden. Schließlich mußte er sich auch mal umdrehen. Da zog Georg die Hände von seinem Gesicht herunter. Sein Gesicht war ohne Züge, Blut floß ihm aus den Nasenlöchern und aus dem Mund und sogar aus den Augen. Franz blieb der Schrei im Halse stecken, aber Georg sagte still: »Meinethalben, Franz, brauchst du doch nicht auszuziehen.«
Fünftes Kapitel
1
Das Gesetz, nach dem die Gefühle der Menschen entflammen und erkalten, galt nichts für die vierundfünfzigjährige Frau, die in einem Zimmer im Schimmelgäßchen am Fenster saß, die kranken Beine auf einem zweiten Stuhl ausgestreckt. Denn diese Frau war Georgs Mutter.
Seit dem Tode ihres Mannes teilte Frau Heisler die Wohnung mit der Familie des Zweitältesten Sohnes. Sie war noch dicker geworden. In ihren eingesunkenen braunen Augen lag ein Ausdruck von Angst und Vorwurf, wie ihn die Augen Ertrinkender haben. Weil ihre Söhne an diesen Ausdruck gewöhnt waren, auch an die kurzen Seufzer aus ihrem offenen Mund, wie Dampf von Gedanken, hatten sie jetzt das Gefühl, ihre Mutter verstünde nicht recht, was man in sie hineinredete, oder wenigstens nicht die Tragweite.
»Wenn er kommt, wird er ja nicht die Treppe raufkommen«, sagte der Zweitälteste, »er wird durch die Höfe kommen. Er wird wie früher über den Balkon klettern. Er weiß ja nicht, daß du nicht mehr im alten Zimmer schläfst. Am besten bleibst du, wo du bist. Leg dich schlafen.«
Die Frau zuckte mit Schultern und Beinen, sie war zu schwer, um allein aufzustehen. Der Kleine sagte eifrig: »Du legst dich, trinkst ‘nen Baldrian, machst den Riegel vor, gelt, Mutter.« Der zweite sagte: »Das wäre
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