Das siebte Kreuz
Teilweise war die Anweisung schon an die Blockwarte gegangen, aber noch nicht von den Blockwarten an die Hauswarte. Denn die Ereignisse, sobald sie die Radiogeräte und Telegrafendrähte verlassen haben, fallen wieder in die zwei Hände der Menschen zurück.
Röders Hauswartsfrau wunderte sich, daß ihr Mieter viel früher als sonst zur Arbeit ging. Sie äußerte ihre Verwunderung, als ihr Mann mit dem Schmierseifkübel in den Flur kam, um ihr für ihren Zuber einen Schwupp auszuteilen. Beide Hauswartsleute hatten nichts für und nichts gegen die Röders, kamen manchmal Beschwerden wegen Gesangs der Frau Röder zur Unzeit; waren sonst ganz vergnügte, auskömmliche Mieter.
Röder lief durch die dunstigen Straßen bis zur Haltestelle. Er pfiff vor sich hin. Fünfzehn Minuten in die Stadt, fünfzehn Minuten zurück, blieb ihm eine halbe Stunde für zwei Besuche, wenn es beim ersten nicht klappte. Er hatte seiner Liesel erklärt, er müsse früh auf, um seinen Freund Melzer zu erwischen, den Torwart der Bockenheimer. Er hatte im Weggehen gesagt: »Pfleg mir den Georg, bis ich wiederkomm.« Er hatte nachts still und wach neben der Liesel gelegen, bis er schließlich doch wohl noch ein wenig geschlafen hatte.
Röder brach ab im Pfeifen. Er war ohne Kaffee weg. Der Mund war ihm trocken. Der kaum angebrochene Tag, der Durst, das Pflaster selbst schienen von Nacht erfüllt, von unablässiger Drohung: Fürchte dich doch, stell dir vor, auf was du dich einläßt. – Röder dachte: Schenk, Moselgasse zwölf, Sauer, Taunusstraße vierundzwanzig. Diese zwei Menschen mußte er jetzt vor der Arbeit aufsuchen. Beide hielt Georg unveränderlich, für unbezweifelbar. Beide mußten und würden ihm helfen, mit Rat und Obdach, mit Papieren und Geld. Schenk war Arbeiter im Zementwerk gewesen, wenigstens zu Georgs Zeit. War ein ruhiger, klaräugiger Mensch, weder in seinem Äußeren noch in seinem Inneren hatte es irgend etwas gegeben, was ganz besonders herausstach. Er war weder besonders tollkühn erschienen, noch besonders witzig, denn sein Witz war gleichsam verteilt über alle seine Erwägungen und auf sein ganzes Leben die Kühnheit. Aber der Schenk hatte alles in sich und an sich gehabt, was für Georg die Bewegung, den Inhalt des Lebens ausmachte. Ja, wenn diese Bewegung durch ein furchtbares Unglück ausgeblutet wäre, zum Stillstand verdammt, Schenk allein hätte alles in sich gehabt, um sie weiterzuführen. Wenn es noch einen Schatten von der Bewegung gab, Schenk hatte die Hand auf dem Schatten. Wenn es noch irgend etwas von Leitung gab, Schenk mußte wissen, wo man das fand. So war es wenigstens Georg in der Nacht erschienen. Röder hätte von alldem wenig verstanden, später vielleicht, wenn Georg je Zeit haben würde, ihm alles selbst zu erklären. Zeit oder nicht Zeit, verstanden oder nicht verstanden, Röder half. Ja, sie waren von diesem Morgen ab alle drei in Röders Hand. Nicht Georg allein, auch Schenk und Sauer.
Sauer war gerade im Monat vor Georgs Verhaftung in dem städtischen Straßenbaubüro untergekommen nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit. Er war noch ein junger Mensch gewesen. In seinem Beruf begabt, daher erst recht über das Nichtstun verzweifelt. Sein Verstand hatte ihn schließlich durch einige hundert Bücher, durch einige hundert Versammlungen, durch einige hundert Parolen, Predigten, Reden, durch einige hundert Gespräche dahin geführt, wo er mit Georg zusammentraf. Georg hielt ihn in seiner Art für ebenso sicher wie Schenk. Sauer folgte in allem seinem Verstand, und sein Verstand ließ nie los, was er gefunden hatte, und war unbestechlich und unbeirrbar, auch wenn das Herz ihm zuweilen zureden mochte, ein klein wenig nachzugeben und dahin zu folgen, wo es sich leichter lebt, um sich dann nachher ausgeruht zu erheben zu allerlei Rechtfertigungen.
Sauer, Taunusstraße vierundzwanzig, dachte Paul, Schenk, Moselgasse zwölf.
Da kam der Melzer um die Ecke, wie gerufen. Jener Melzer, von dem er der Liesel was vorgeschwatzt hatte. – »He, Melzer, du kommst mir recht, hast du für uns zum Sonntag zwei Freikarten?« – »Das kann alles erreicht werden«, sagte Melzer. – Glaubst du denn wirklich, Paul, erhob sich ein Stimmchen inwendig in dem Röder, fein und schlau, daß du die Freikarten am Sonntag brauchst, daß du sie nötig haben wirst? – »Ja«, sagte Paul laut, »ich brauche sie.« Melzer breitete seine Meinung aus über die mutmaßlichen Aussichten für das
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