Das siebte Kreuz
Main her kommen. Der Zweilein wird ihn abpassen.« Die Frau sagte: »Er ist verloren, wenn er herkommt.« Der Sohn sagte: »Selbst dann ist er doch noch nicht ganz verloren.«
2
Der Tag brach an, obwohl man in den Rieddörfern vor Nebel nichts davon bemerkte. In der Küche des äußersten Hauses von Liebach brannte noch immer die Lampe, als das Mädchen mit seinen Eimern in den Hof kam. Sie schauerte zusammen. Sie trat vor das Tor und stellte die Eimer ab. Auf ihrem Gesicht lag der ruhige und ungespannte Ausdruck, mit dem sie den Jungen erwartete, der als ihr Verlobter galt.
Sie fröstelte. Der Nebel drang einem rasch durch die Kleider; alles ergraute, sogar das Kopftuch um ihr Haar. Sie glaubte den Schritt des Jungen zu hören, da er jetzt kommen mußte, sie hob schon die Arme. Aber das Tor blieb leer. Keine Bangigkeit, nur eine Spur von Erstaunen entstand auf ihrem Gesicht, sie wartete weiter. Sie schlug, um sich zu erwärmen, die Arme über Kreuz. Sie trat in das Tor und guckte herunter. Der Nebel zum Schneiden! Wird er steigen oder fallen! Jetzt kommen zwei Schatten den Weg herauf, von denen einer der Fritz sein muß. Er muß es sein, doch er ist es nicht. Die Schatten gehen in ein Schattenhaus. Das Mädchen wendet sich ab. Zum erstenmal liegt auf ihrem Gesicht der Niederschlag vergeblichen Wartens, wenn auch nur minutenlang. Dann wird er eben nachmittags kommen. Sie hebt ihre Eimer auf, trägt sie in den Stall, geht mit den leeren Eimern ins Haus. Man hat schon dreimal in der Küche versucht, ohne Lampe auszukommen. Man hat sie immer wieder angeknipst. Sonst kann die Großmutter weder mit Brille noch ohne Brille Linsen belesen. Die ältere Kusine dreht Rüben durch, die jüngere kehrt den Dreck zur Tür raus. Die Mutter füllt schnell die beiden Eimer, die ihr das Mädchen vorschiebt. Von diesen Frauen hat keine gemerkt, daß der Fritz nicht gekommen ist. Das Mädchen denkt: Die merken aber rein gar nichts.
»Paß doch auf«, sagte die Mutter, weil ein Schöpflöffel Futterbrühe verkleckert.
Als das Mädchen mit seinen Eimern zum zweiten Male durch den Hof geht, bimmelt weit weg das Ladenglöckchen. Es bimmelt, weil Gültscher sich Tabak kauft. Fritz wartet vor der Tür. Er hat die neue Vorladung gestern bekommen. Man will ihn immer wieder was wegen der Jacke fragen. Ja, aber es ist doch gar nicht deine, hat die Mutter gefragt. Er hat auch zu ihr fest nein gesagt.
Er hat die ganze Nacht gegrübelt, was man ihn wieder fragen möchte. Er hat am Morgen am Radio herumgedreht. Die Flüchtlinge waren beschrieben worden – von sieben nur noch zwei –, da war ihm heiß geworden. Sie hatten vielleicht jetzt schon den gefangen, den er bei sich seinen eigenen nannte. Sein eigener konnte gesagt haben: Ja, das war die Jacke!
Warum war er plötzlich allein auf der Welt? Er konnte Vater und Mutter nicht fragen und nicht seine Kameraden, die er gern hatte. Er konnte nicht einmal seinen Scharführer fragen, den Martin, dem er blind vertraute. Die vorige Woche war alles gut gewesen, und inwendig kühl und ruhig, die ganze Welt in Ordnung. Wenn ihm sein Scharführer Martin vorige Woche befohlen hätte, auf den Flüchtling loszuknallen, dann hätte er losgeknallt. Wenn ihm sein Scharführer nur befohlen hätte, mit einem Dolch im Schuppen auf der Lauer zu liegen, bis sich der Flüchtling hineinschlich, um die Jacke zu stehlen, er hätte ihn vor dem Diebstahl totgestochen.
Da sah er den Gärtner Gültscher daherkommen, er lief fast hinter ihm her, ein alter Mann, der sein Vater sein konnte, ein mürrischer Mann mit einer Pfeife. Ihm konnte man manches sagen.
»Jetzt haben sie mich wieder vorgeladen.« Gültscher sah rasch den Jungen an. Er schwieg. Sie gingen schweigend bis zum Laden. Fritz wartete, Gültscher kam raus, er stopfte seine Pfeife, sie gingen weiter. Fritz hatte sein Mädchen vergessen, als ob er nie eins gehabt hatte. Er sagte: »Warum die mich noch mal vorladen?« – »Wenn es wirklich nicht deine Jacke war –« – »Ich habe ihnen doch erklärt, was anders an meiner Jacke war. Wenn sie jetzt den Mann zu der Jacke gefangen haben! Sie suchen ja nur noch zwei!«
Gültscher schwieg. Wer nichts fragt, bekommt die ausführlichste Antwort. – »Wenn der nun sagt: Doch, das ist meine Jacke …« Jetzt sagt Gültscher: »Möglich. Sie können ihm ja so lange zugesetzt haben.« Er hatte die Augen zugedrückt, wobei er den Jungen scharf beobachtete. Er beobachtete
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