Das siebte Kreuz
das richtige.« Er war ein grobschlächtiger Mensch, der älter aussah als er war. Sein großer Kopf war geschoren, und erst vor kurzem hatte ihm eine ausgeschlagene Lötflamme Brauen und Wimpern versengt, wodurch sein Gesicht stumpf erschien. Er war ein hübscher Bengel gewesen wie alle Heisler-Söhne. Jetzt war er ein rechtes Stück von einem SA-Mann, bei ihm war alles schon vergröbert, verdickt. Der Kleine aber, der Heini, der war, wie ihn Röder beschrieben hatte. Sein Wuchs, sein Schädel, sein Haar, seine Zähne – als hätten ihn seine Eltern nach dem Lehrbuch der Rasse geschaffen. Jetzt machte der Älteste Miene, mit einem gezwungenen Lachen die Mutter samt ihren zwei Stühlen zum Bett zu schleppen. Er stockte, weil ihn ein Blick aus den Augen der Mutter traf, der war danach; als koste sie diese Botschaft von einem Blick gewaltige Anstrengung. Er ließ ihre Stühle los, er senkte den Kopf. Der Heini sagte: »Du hast mich doch verstanden? Was sagst du, Mutter?« Sie sagte gar nichts, sie sah nur wieder den jüngsten Sohn an, dann den älteren, dann wieder den jüngsten. Wie mußte der Knabe gewappnet sein, um diesen Blick auszuhalten! Der Ältere trat ans Fenster. Er sah auf die nächtliche Gasse. Der Kleine aber bezwang sich nicht, um den Blick seiner Mutter zu ertragen, er merkte ihn gar nicht.
»So leg dich doch endlich«, sagte er, »stell die Tasse ans Bett. Ob er kommt oder nicht kommt, das kümmert dich nicht. Du sollst auch gar nicht dran denken, daß es ihn gibt. Du hast ja uns drei.«
Der Ältere hörte zu, das Gesicht zur Gasse. Er staunte – der hatte sich eine Sprache zugelegt, der Heini, dem Georg sein Goldbrüderchen. Beteiligt sich an der Hatz, als ob das gar nichts wäre. Will noch den Pimpfen in seiner Gasse beweisen und auch den Großen, daß ihm der Georg nur Luft ist, auch wenn er mal früher wie eine Klette am Georg gehangen hat. Den Kleinen haben sie noch ganz anders umgestülpt als ihn, der sich ganz umgestülpt vorkommt. Er war zur SA gegangen vor anderthalb Jahren, weil er mit Grausen an seine fünf Jahre Arbeitslosigkeit dachte. Ja, dieses Grausen war eine der wenigen geistigen Unternehmungen seines dumpfen und wenig unternehmungslustigen Verstandes. Er war der unentwickeltste, dümmste unter den Heislerbuben. Du wirst deinen Arbeitsplatz morgen verlieren, hieß es, wenn du heut nicht eintrittst. In seinem klotzigen, trägen Kopf lebte noch immer der Schatten einer Vorstellung, das alles sei doch nur halb gültig. Das Endgültige stünde noch aus. Das Ganze sei doch nur Spuk, der vorübergehen mußte. Wodurch? Durch wen? Wann? Das wußte er alles selbst nicht. Wie jetzt der Heini vor seiner Mutter redete, so dreist und kalt, derselbe Heini, den Georg zu allen Kundgebungen auf seinen Schultern geschleppt hatte, der jetzt Rosinen im Kopf hatte, von Führerschulen und von der SS und von der motorisierten SS, da drehte sich ihm sein Innerstes um. Er wandte sich vom Fenster ab und starrte den Kleinen an. Der sagte: »Ich geh jetzt runter zu Breitbachs, du gehst ins Bett, Mutter. Du hast doch alles verstanden?« Die Mutter erwiderte jetzt, zur Überraschung der beiden: »Ja.«
Sie war auch wirklich mit ihren Gedanken zu Ende. Sie sagte ganz frisch: »Bring mir meinen Baldrian.« Ich werd ihn trinken, dachte die Frau, damit mir mein Herz keine Zicken macht. Ich werd mich auch legen, damit sie rausgehen. Dann werd ich mich an die Tür setzen, und wenn ich den Georg ankommen höre hinter den Höfen, dann werd ich brüllen: Gestapo.
Seit drei Tagen erklärte man ihr, besonders die Frau des Zweitältesten und ihr Heini, wie groß die Familie sei, Georg abgerechnet, drei Söhne und sechs Enkel, wieviel sie durch Unbedachtheit zerstören könnte. Die Mutter war stumm geblieben. In früheren Zeiten war Georg nur einer unter vier Söhnen gewesen. Er hatte ihr viel Verdruß gemacht. Es hatte immerzu Klagen gegeben von Lehrern und Nachbarn. Er hatte sich immer gestritten mit seinem Vater und seinen zwei älteren Brüdern. Er hatte sich mit dem Zweitältesten gestritten, dem alles eins war, was Georg aufregte, und mit dem Ältesten hatte er sich gestritten, weil den das gleiche aufregte wie Georg, doch seine Meinung über das gleiche anders war.
Dieser ältere Bruder wohnte jetzt mit seiner eigenen Familie am anderen Ende der Stadt. Er wußte durch Zeitung und Radio von der Flucht. Wenn schon kein Tag vergangen war, seit sie Georg eingesperrt hatten, daß er nicht an den
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