Das siebte Kreuz
»Ob Sie sich noch an ihn erinnern? Er hat damals die schöne Paddelbootpartie auf der Nidda mit Ihnen gemacht.« – Das wird die Probe, dachte der andere, ob ich mich schneide. Er fing an sich zu rasieren mit schlaffen Handgelenken. Er schnitt sich nicht und zitterte nicht. Das ist ja nun gemacht, dachte Paul, warum wischt er sich sein Gesicht nicht ab und spricht vernünftig mit mir? Solang schabt er doch sonst nicht an sich herum. Der ist doch eher hui-hui – Sauer sagte: »Ich verstehe Sie überhaupt nicht. Was wollen Sie von mir? Von wem grüßen Sie mich?« – »Von Ihrem Paddelfreund«, wiederholte Röder. »Von dem Bootchen Annemarie.« Er erwischte den schrägen Blick des anderen über den Spiegel hinweg ums Eck. Sauer bekam etwas Schaum in die Wimper, er wischte sie mit dem Handtuchzipfel. Dann fuhr er mit dem Rasieren fort. Ohne den Mund richtig zu öffnen, sagte er: »Ich verstehe noch immer kein Wort. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin außerdem eilig. Sie haben sicher eine Adresse falsch nachgeschlagen.«
Röder war einen Schritt näher getreten, er war viel kleiner als Sauer. Jetzt sah er Sauers linke Gesichtshälfte in dem Seitenspiegel. Er spähte unter den Schaum, aber er sah nur den mageren Hals, das vorgestreckte Kinn. Sauer dachte: Wie er lauert! Aber er kriegt mein Gesicht nicht zu sehen. Kann er lang lauern. Wieso sind die auf mich verfallen? Also doch ein Argwohn. Also doch beobachtet –. Wie er um mich rum schnüffelt! Die kleine Ratte! – Er sagte: »Dann hat eben Ihr Freund falsch nachgeschlagen. Ich bin sehr eilig. Bitte, stören Sie mich nicht mehr. – Heidi!«
Röder fuhr zusammen. Er hatte nicht gemerkt, daß sie zu dritt waren. Hinter der Tür stand ein Kind, zog ein Halskettchen zwischen den Zähnen, hatte ihn wohl die ganze Zeit über ebenso stumm betrachtet. »Zeig ihm die Treppe!« Röder, während er hinter dem Kind auf den Flur ging, dachte: Scheißkerl! Hat doch alles verstanden. Will nichts riskieren, vielleicht wegen dem Fratz da. Hab ich denn nicht auch Kinder?
Als er die Tür zuschlug, wischte sich Sauer übers Gesicht mit einem Hui, wie’s ihm der Röder zugetraut hatte. Er sprang ans Schlafzimmerfenster, ganz wild, ganz atemlos riß er den Laden hoch. Er sah noch einmal den Röder, wie er die Straße überquerte. Hab ich mich richtig gehalten? Was wird er über mich melden? Ruhig, ich bin sicher nicht der einzige. Fühlen vielleicht heute ein paar Dutzend verdächtigen Leuten auf den Zahn. Komischer Vorwand! Ausgerechnet diese Flucht. Gar kein dummer Vorwand! Etwas muß sie doch auf den Gedanken gebracht haben, daß ich früher mit dem Heisler zu tun hatte. Oder fragen sie alle durchweg dasselbe?
Plötzlich lief s ihm den Rücken herunter. Wie, wenn es ernst war, wenn es kein Dreh von der Gestapo war? Wenn ihn wirklich der Georg geschickt hat! Wenn es nun doch kein Achtgroschenjunge war? – Ach was? Wenn es wirklich nicht bloß ein Gerücht war, daß der Georg Heisler hier in der eigenen Stadt herumlief, konnte man andere Mittel finden, an ihn heranzukommen. Dieser komische Kleine da hat nur gespitzelt. Plump und ungeschickt! Er atmete auf. Er trat zurück vor den Spiegel, um sein Haar zu scheiteln. Sein Gesicht war erbleicht, wie braune Gesichter erbleichen, als welke ihnen die Haut. Hellgraue Augen starrten aus dem Spiegel zurück, tiefer in ihn hinein als jemals fremde Augen. Dumpfe Luft! Das verdammte Fenster immer vergipst! Er seifte sich rasch frisch ein. – Immerhin, sie müssen doch einen Anlaß haben, daß sie mir diesen Köder heraufschicken. Muß ich fliehen? Kann ich denn überhaupt noch anfragen, ob ich fliehen soll, ohne andere zu gefährden? Er fing an mit rasieren, doch seine Hände zitterten jetzt. Er schnitt sich sofort, er fluchte.
Ach, ich hab ja noch Zeit, zum Friseur zu gehen – Volksgerichtshof und Schluß – zwei Tage nach der Verhaftung. Gib nicht so an, mein Liebchen. Stell dir vor, mein Liebchen, ich sei mit dem Flugzeug abgestürzt.
Er band den Schlips um, ein gesunder, magerer, vertrauenswürdiger Mann gegen Vierzig. Er zeigte sich die Zähne. Vorige Woche hab ich noch zu Hermann gesagt: Diese Herrschaften werden ihre Stellen eher verlieren als wir die unseren, und ich werde euch noch quer durch die neue Republik ein paar ordentliche Straßen bauen.
Er trat zurück ans Schlafzimmerfenster. Er warf einen Blick auf die leere Straße, durch die der Kleine vorhin gesegelt war. Ihm wurde kalt. Der
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