Das siebte Kreuz
schon mitten irn Hof und schrie mit den Fuhrleuten. Sie war mal früher, erzählte man in der Familie, an den Fuhrunternehmer Grabber geraten, einen versoffenen Kerl, hatte selbst saufen gelernt, war grob und finster geworden. Es hatte auch eine zweite Geschichte in seiner Familie gegeben von einem Kind, das die Tante Katharina plötzlich im Krieg geboren hatte, elf Monate nach dem letzten Heimaturlaub des Fuhrunternehmers. Da hatte die ganze Familie gespitzt, was der denn für Augen machen würde, wenn er endlich seinen zweiten Urlaub antrat. Er trat ihn aber nie an, denn er fiel. Das Kind mußte auch nie groß geworden sein; denn Paul hatte es nie gesehen.
Er hatte sich immer zu dieser Person hingezogen gefühlt, halb widerwillig, halb neugierig. Weil er Spaß am Leben hatte, sah er gern in ihr großes, böses Gesicht, das vom Leben zugerichtet war, wenn auch übel. Er vergaß auch minutenlang Georg und sich selbst, wie er lächelnd der Frau zuhörte, ihren Flüchen, die auch ihm neuartig waren. Bei der möcht ich zuletzt schaffen, dachte er. Dabei war er gekommen, um mit ihr über einen von Lisbeths Brüdern zu sprechen, den sie einstellen sollte, einen Pechvogel, dem man nach einem Unfall den Führerschein entzogen hatte. Das kann ich auch noch heute abend besprechen, dachte Paul. Er konnte seinen Durst nicht bezwingen, trat durch die Hintertür in die Wirtschaft, die auf den Hof ging, wobei er der Tante bloß winkte, ungewiß, ob sie im Schimpfen den Gruß bemerkte. Ein altes Männlein mit roter Nase, das immer noch oder schon wieder im Hofzimmer süffelte, brachte sein Gläschen: »Prost, Paulchen!« Heut abend werd ich mir wieder eins zulegen, dachte Paul, wenn ich das andere erledigt habe.
Das Schnäpschen lag im leeren Magen wie ein heißes Kügelchen. Die Straßen füllten sich. Die Zeit war schon knapp. – Und inwendig in dem Paul piepste das Mause-stimmchen schlau und dünn: Ja, wenn! Das andere erledigen! Du bist gerade der Rechte! Um diese Zeit warst du gestern glücklich!
Um diese Zeit war er gestern noch schnell zum Bäcker gelaufen, um seiner Frau zwei Pfund Mehl zu holen. Sie hat ja die Dampfnudeln gar nicht gebacken, dachte Paul. Hoffentlich backt sie sie heute. Er stand vor der Nummer vierundzwanzig. Er sah sich verwundert im Treppenhaus um, das sehr gut gehalten war, mit Messingstangen und Läufern. Er spürte eine Regung von Argwohn, ob seinesgleichen aus solchem Haus Hilfe käme.
Röder atmete auf, als er diesmal den Namen bereits von der Treppe erblickte, in gotischen Buchstaben aus dem Metallschild herausgetrieben, das er erstaunt antippte, bevor er schellte. Sauer, Architekt. Röder ärgerte sich über sein Herzklopfen. Eine hübsche, weiß geschürzte Person war noch nicht die Frau, sondern erst das Mädchen. Gleich darauf kam die Frau, ebenfalls jung und hübsch, unbeschürzt, ebenso braun wie die erste blond war. »Was? Jetzt? Mein Mann?« – »Beruflich, nur zwei Minuten.« Er hatte kein Herzklopfen mehr. Er dachte: Dieser Sauer lebt gar nicht schlecht. »Kommen Sie rein«, sagte die Frau. »Hier herein!« rief der Mann. Röder warf ein paar Blicke rechts und links. Er war neugierig von Natur. Sogar jetzt reizte die Glasröhre an der Wand, in der das Licht stand, seine Neugierde und die Bettgestelle aus Nickel. Eine Ahnung, daß alles im Leben wert sei, gefühlt, beguckt und geschmeckt zu werden, hinderte ihn, ausschließlich bei einer furchtbaren Einzelheit zu verweilen. Er ging der Stimme nach durch die zweite Tür. So schwer ihm ums Herz war, wunderte ihn die eingelassene Wanne, in die man nicht stieg, sondern plumpste, und der dreiteilige Spiegel über dem Waschbecken. »Heil Hitler!« sagte der Mann, ohne sich umzudrehen. Röder sah ihn im Spiegel über dem umgebundenen Handtuch. Wie eine Maske bedeckte Seifenschaum das unbekannte Gesicht. Nur die Augen musterten ihn im Spiegel mit einem scharfen Blick, der nichts verriet als Verstand. Röder suchte sich seine Worte zusammen. »Bitte«, sagte der Mann. Er zog seine Rasierklinge ab mit äußerster Sorgfalt. Röders Herz klopfte und Sauers Herz klopfte nicht minder. Diesen Menschen hat er nie im Leben gesehen. Er war nie auf dem städtischen Straßenbaubüro. Unbekannte Besucher zu ungewohnten Zeiten konnten alles bedeuten. Nur nichts wissen. Niemand kennen. Sich nicht überrumpeln lassen. Röder kannte seine gewöhnliche Stimme nicht. »Ich soll Sie grüßen von einem gemeinsamen Freund«, sagte Paul.
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