Das siebte Kreuz
Spiel »Niederrad–Westend«. Er fuhr plötzlich zusammen. Heim, nichts wie heim, erklärte er, bevor seine Mutter wach sei, denn er kam gerade von seiner Braut, einer Arbeiterin bei Cassella, und die Mutter, Besitzerin eines winzigen Schreibwarengeschäftes, konnte die Schwiegertochter nicht riechen. Paul kannte das Schreibwarengeschäftchen, er kannte Mädchen und Mutter, er fühlte sich heimisch und sicher. Er sah dem Melzer lachend nach. Dann kam wieder das Stimmchen zurück, fein und schlau, diesen Melzer wirst du vielleicht nie mehr wiedersehen. Röder dachte wütend: Unsinn, tausendmal, sogar zur Hochzeit wird er mich einladen. – Fünfzehn Minuten später ging er pfeifend die Moselgasse herunter. Er brach ab vor der Nummer zwölf. Zum Glück war die Haustür schon offen. Er stieg schnell in den vierten Stock. Auf dem Türschild ein fremder Name – Röder verzog das Gesicht. Eine alte Frau in Nachtjacke öffnete die gegenüberliegende Tür, fragte ihn, wen er suche. »Wohnen die Schenks nicht mehr hier?« – »Die Schenks?« fragte die alte Frau. Sie sagte in ihre Wohnung hinein in eigentümlichem Ton: »Da fragt einer nach den Schenks.« Eine jüngere Frau beugte sich über die Brüstung des obersten Stockwerks, die Alte rief nach oben. »Der fragt nach den Schenks!«
Auf dem müden, verquollenen Gesicht der Frau entstand ein Ausdruck von Bestürzung. Sie hatte einen geblümten Schlafrock und eine große lockere Brust. Wie Lisbeth, dachte Paul. Überhaupt war das Treppenhaus dem seinen nicht unähnlich. Sein Türnachbar Stümbert war auch so ein dreiviertelkahler ältlicher SA-Mann, wie der da in Uniform, aber aufgeknöpft und in Socken, weil er sich nach einer nächtlichen Übung einfach hingeschmissen hatte. »Zu wem wollen Sie?« fragte er Röder, als traue er seinen Ohren nicht. Paul erklärte: »Die Schenks schulden meiner Schwester noch Geld für einen Kleiderstoff. Ich geh für meine Schwester einkassieren. Ich habe mir die Stunde gewählt, wo man die Menschen daheim trifft.«
»Frau Schenk wohnt schon drei Monate nicht mehr hier«, sagte die alte Frau. Der Mann sagte: »Da müssen Sie nach Westhofen fahren, wenn Sie einkassieren wollen.« Er sah auf einmal ganz munter aus. Er hatte sich anstrengen müssen, um Schenks beim Abhören des verbotenen Senders zu erwischen. Aber schließlich war es mit allerlei Tricks gelungen. Die Schenks hatten lieb und zahm getan. Heil Hitler! hinten und vorn. Lehrt ihr mich aber mal Menschen kennen, mit denen ich Tür an Tür wohn. »Du meine Güte!« rief Röder. »Na, Heil Hitler!« – »Heil Hitler!« sagte der andere in Socken, mit einer Andeutung von Armheben, mit glänzenden Augen im Genuß der Erinnerung. Röder hörte ihn hinter sich lachen. Er wischte sich über die Stirn, erstaunt, daß sie feucht war. Zum erstenmal, seit er Georg wiedergesehen hatte, ja vielleicht seit seiner Kindheit, spürte er etwas Frostiges in der Herzgrube, dem er freilich auch jetzt nicht den Namen Furcht gab. Er hatte eher die Vorstellung, als drohe ihm, der sein ganzes Leben gesund gewesen war, eine ansteckende Krankheit. Sie war ihm überaus lästig, und er wehrte sich. Er stampfte fest auf die Treppe, um das flaue Gefühl in den Kniekehlen loszuwerden. Auf dem untersten Absatz stand die Hauswartsfrau. »Zu wem haben Sie da gewollt?«
»Zu den Schenks«, sagte Röder, »ich kassier nämlich für meine Schwester ein. Der sind die Schenks noch Geld für Kleiderstoff schuldig.« Die Frau aus dem Dachgeschoß kam jetzt herunter mit ihrem Mülleimer. Sie sagte zu der Hauswartsfrau: »Der hat nach den Schenks gefragt.« Die Hauswartsfrau betrachtete Röder von oben bis unten. Im Hausflur hörte er noch, wie sie in ihre Wohnung hineinrief: »Da hat einer nach Schenks gefragt!«
Röder trat auf die Straße. Er wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel. Nie hatten ihn Menschen so sonderbar angesehen. Welcher Teufel riet Georg, ihn zu dem Schenk zu schicken? Wieso hatte Georg nicht gewußt, daß der Schenk in Westhofen war? – Verfluche diesen Georg, riet ihm das feine, inwendige Stimmchen, das wird dich erleichtern. Verfluche ihn, er richtet dich zugrund. – Dazu kann er nichts, dachte Röder, seine Schuld ist das nicht. Er lief pfeifend weiter. Er kam durch die Metzgergasse. Sein Gesicht erhellte sich. Er trat in eine der offenen Torfahrten. In dem großen Hof unter hohen Häusern lag die Garage, die zu dem Fuhrunternehmen seiner Tante Katharina gehörte. Sie stand
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