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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Wie soll ich mich hier auskennen, wenn ich zum erstenmal hier bin?«
     
    »Nimm ihn nur gleich wieder heim!« rief die Frau dem Paul zu, der auf einmal wieder zurückkam, Georgs Hut in der Hand. Wie er die Gasse runtergerannt war, und sie hatten ihm aus den Wirtschaften zugeheilt, und er hatte den Arm geschwenkt, war ihm der Hut wieder eingefallen. Paul erschrak. Er schnitt eine Grimasse. »Probier’s bis morgen, dann komm ich wieder, dann gibst du mir Bescheid.« Er lief weg, so rasch er konnte.
     
    »Ohne den Paul«, sagte die Frau jetzt ruhiger, »kann so einer wie Sie vor die Hunde gehn. Mein Geschäft ist kein Siechenheim, kommen Sie mal mit.« Er folgte ihr durch den Hof, der ihm viel zu helle war und viel zu belebt. Aus der Hoftür der Wirtsstube und den Haustüren kamen und gingen die Menschen. Schon streiften ihn Blicke. Ein Polizist stand in der offenen Garage vor einem leeren Wagen. Vor mir hat er ja schließlich nicht da sein können, dachte Georg, dem der Schweiß ausbrach. Der Polizist gab auf ihn nicht acht, er verlangte irgendein Papier. »Suchen Sie sich ein paar Lumpen aus«, sagte die Frau zu Georg. In die Garage guckte das Fenster einer Kammer, die als Büro benutzt wurde. Der Polizist sah stumpf zu, wie sich Georg einen von den öligen Kitteln anpaßte, die da herumlagen. Dann sah er hinauf in das helle Fenster, auf den großen weißen Kopf der Frau. Er murmelte: »So en Weibsbild.« Als er weg war, steckte die Frau ihren Kopf durchs Fenster; sie stützte die Arme in einer Art auf, daß es klar war, dieses Fenster war ihre Kommandobrücke. Sie schimpfte und schrie: »Raus, raus in den Hof, du Lahmedreher! Der wird in anderthalb Stunden abgeholt nach Aschaffenburg, hopp hopp!«
     
    Georg kam unter das Fenster. Er sagte herauf: »Wollen Sie mir gefälligst ganz ruhig und genau erklären, was ich bei Ihnen zu tun hab.« Ihre Augen wurden eng. Ihre Pupillen bohrten sich in das Gesicht dieses Burschen, von dem sie gehört hatte, daß er ein ziemlich liederlicher Gesell war, der seine Familie ruinierte. Aber wie sie auch zubohrte, diesem Gesicht, das, wie sie glaubte, ein Sturz verschandelt hatte, war nichts mehr anzuhaben. Wo es doch sonst gefror, wo sie hinblickte, spürte sie selbst zum erstenmal einen Hauch von Kälte. Sie fing ruhig zu erklären an, wie er den Wagen überholen mußte. Sie sah scharf zu. Nach einer Weile kam sie heraus, stellte sich neben ihn, trieb ihn an. Georgs halbgeheilte Hand war rasch wieder aufgesprungen. Wie er sich einen Dreckfetzen verknotete mit den Zähnen und mit der rechten Hand, sagte sie: »Entweder sind sie geheilt, dann hopp, oder nicht, dann heim!« Er erwiderte nichts mehr, sah auch die Frau nicht mehr an, sondern dachte sich, sie ist so und nicht anders, sie muß so und nicht anders genommen werden, schließlich geht alles vorbei. Er gehorchte und arbeitete rasch und verbissen, und war bald so erschöpft, daß er nichts mehr fürchten und nichts mehr denken konnte.
     
     
     
    Währenddessen wartete Liesel in ihrer dunklen Küche. Als der Paul nach zehn Minuten noch nicht zurück war, wußte sie, daß er den Georg auf einen längeren Weg begleitet hatte. Was war geschehen? Was hatten die beiden vor? Warum hatte ihr Paul nichts erzählt?
     
    Dieser Abend war totenstill. Das Gehämmer im vierten Stock, das Geschimpfe im zweiten, Märsche aus einem Radio, das Gelächter über die Straße von Fenster zu Fenster konnte die Stille nicht übertönen und erst recht nicht die leichten Schritte, die die Treppe heraufkamen.
     
    Liesel hatte nur einmal im Leben selbst etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Damals war sie ein Kind gewesen von zehn, elf Jahren. Einer von ihren Brüdern hatte irgendwas ausgefressen, vielleicht der, der im Krieg gefallen war, denn man hatte später nie mehr in der Familie davon gesprochen. Es war mit ihm in Flandern begraben. Aber die Angst, an der sie damals alle gewürgt hatten, war der Liesel noch heute im Blute. Die Angst, die mit dem Gewissen nichts zu tun hat, die Angst der Armen, die Angst des Huhnes vor dem Geier, die Angst vor der Verfolgung des Staates. Diese uralte Angst, die besser angibt, wessen der Staat ist, als die Verfassungen und Geschichtsbücher. Aber zugleich beschloß die Liesel, sich zu wehren, sich und ihre Brut zu verteidigen mit Klauen und Zähnen, mit List und Tücke.
     
    Als die Schritte über den letzten Absatz nun ganz gewiß bis zu ihr kamen, sprang sie auf, knipste das Licht an und begann zu singen mit

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