Das siebte Kreuz
Wunder genug, daß er, von hinten nach vorn durchschossen, doch sein Leben behalten hatte, das Leben eines Schweißers bei Pokorny.
Paul konnte sich noch erinnern, wie Heinrich im November achtzehn frisch aus dem Frontlazarett in Eschersheim aufgetaucht war: Hohläugig, auf zwei Stöcken, gewillt, das Land zu verändern. Er, Paul, war um jene Zeit angelernt worden. Was ihn an Heinrich am meisten gefesselt hatte, war diese große Einschußnarbe. Heidrich hatte rasch seine zwei Krücken abgelegt. Er wollte bald ins Ruhrgebiet abziehen, bald nach Mitteldeutschland. Er wollte überallhin, wo es hart auf hart ging. Er war ja ohnedies schon zusammengeschossen. Aber die Noske und Watter und Lettow-Vorbeck hatten ihm seine Aufstände rascher zusammengeschossen, als er von Eschersheim aus dort ankam. Keine Schüsse hätten den Heinrich so ausbluten können, wie die kommenden Friedensjahre: Arbeitslosigkeit, Hunger, Familie, Abbröckeln aller Rechte, Spaltung der Klasse, das Verzetteln der teueren Zeit, wer nun recht habe, statt das Rechte unverzüglich zu tun, und zuletzt im Januar 33 der furchtbarste Schlag. Niedergebrannt die heilige Flamme des Glaubens, des Glaubens an sich selbst. – Paul wunderte sich, wie er gar nichts gemerkt hatte von einer Veränderung an dem Mann. Wie er sich jetzt dem Paul darbot an diesem Morgen, wollte er sicher kein Härchen von seinem Kopf mehr verlieren, sondern endlich für immer in Arbeit bleiben. Für wen auch und von wem auch.
Vielleicht Emmrich, dachte Paul. Der war der Älteste der Abteilung. Weiße, dicke Brauen über den strengen Augen und ein weißes Zwirbelchen auf dem Kopf. Der war mal stramm organisiert gewesen; hatte die rote Fahne zum ersten Mai immer schon abends am dreißigsten April herausgehängt, damit sie beim ersten Morgengrauen losflattern konnte. Das fiel dem Paul jetzt plötzlich ein. Solche Sachen waren ihm früher eins gewesen, Schnurren, Eigenheiten von Menschen. Emmrich war wohl deshalb nicht ins KZ gekommen, weil er zu dem unentbehrlichen Stamm Facharbeiter gehörte und ziemlich alt war. Dem seine Zähne sind auch jetzt stumpf. Er wird nicht anbeißen. – Aber dann fiel ihm ein, daß Emmrich zweimal mit dem jungen Knauer und dessen Freunden in Erbenbeck im Wirtshaus gesessen hatte, wo sie doch hier nie miteinander sprachen, ja, daß der Knauer abends öfter aus Emmrichs Haus gekommen war. – Plötzlich verstand sich der Paul auf das Geflüster der Menschen, wie jener Mann im Märchen sich auf die Stimmen der Vögel verstand, nachdem er von einer bestimmten Speise gekostet hatte – ja, diese drei gehören zusammen, und auch der Berger gehört dazu und vielleicht auch der Abst. Emmrich mag seine Fahne eingerollt haben, in seinen alten, gestrengen Augen gibt es einen Ausdruck von Wachsamkeit. Der und seine Kumpane wüßten mindestens einen Unterschlupf für meinen Georg, dachte Paul, aber ich wag sie doch nicht zu fragen. Die kleben zusammen, die lassen nichts an sich ran, die kennen mich nicht, sind mißtrauisch. Haben sie nicht auch recht? Warum sollen sie mir denn trauen, was bin ich denn schließlich für sie? – das Paulchen.
Er hatte immer gesagt, wenn ihn einer etwas gefragt hatte: Mich laßt aus: mir ist die Hauptsache, meine Liesel hat meine Suppe gekocht, auch wenn der Löffel mir nicht drin stehenbleibt.
Und jetzt? Und morgen? Die hastige, heisere Stimme, leibhaftiger, dauerhafter als der Gast selbst, der, grau im Gesicht, mit seiner verbundenen Hand auf dem Küchensofa herumlag: Ja, warum glaubst du denn, Paul, daß sie dir diese Suppe lassen, Brot und Windeln und acht Stunden statt zwölf und Urlaub und Schiffskarten – aus Güte? Aus Menschenliebe? Sie lassen sie dir aus Furcht. Du hättest auch das nicht, wenn wir dir’s nicht beschafft hätten, wir, und nicht sie. In vielen Jahren, mit Blut und Gefängnis, solche wie du und ich.
Er hatte erwidert: Mußt du sogar jetzt wieder davon anfangen? Georg hatte ihn aufmerksam angesehen, fast so wie gestern abend, als er im Hof der Frau Grabber von ihm wegging. Georgs Haar war grau über den Ohren, seine Unterlippe war häutig, zerbissen.
Er ist verloren, wenn ich nicht heute noch jemand finde. Ich darf an nichts anderes denken. Wie aber kann ich denn überhaupt jemand finden? Die Schlechten verraten mich, die Guten verstecken sich. Sie verstecken sich viel zu gut.
Da stand auf seinen zwei mächtigen Beinen, wie aufmontiert, der Fritz Woltermann. Eine blaue Schlange mit
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