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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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hatte. Doch die Erinnerung an den alten Georg überkam ihn jäh und genau zugleich. Er sah ihn so deutlich vor sich, daß er hätte aufschreien mögen. So hatten in vergangenen Jahrhunderten, in ebenso dunklen Zeiten, die Menschen aufgeschrien, wenn sie plötzlich, im Gewühl einer Straße oder auch eines betäubenden Festes, den einzigen zu erblicken glaubten, den ihnen ihre verbotene Erinnerung vorspiegelte, die zugleich ihr Gewissen war. Er sah Georgs Jungengesicht, seinen frechen und traurigen Blick, sein dunkles Haar, das vom Wirbel dicht und schön abfiel. Er sah Georgs in die Hände gestützen Kopf, einen Kopf auf zwei Schultern, einen Kopf als Ding, einen Kopf als Preis. Franz raste los, als sei er selbst bedroht.
     
    Ganz verwühlt und verstört, was sich zum Glück in seinen ein wenig groben und schweren Zügen nicht recht ausprägte, kam er bei Hermann an. Er konnte sein volles Herz nicht einmal ausleeren. Hermann war nach der Arbeit nicht heimgekommen. »Eine Veranstaltung«, sagte Else, die den verstörten Franz aus ihren runden Augen betrachtete, die neugierig und rein zugleich waren.
     
    In dem Gefühl, ihn wegen irgend etwas trösten zu müssen, bot sie ihm aus einer Schachtel Lakritzen an. Hermann kaufte ihr öfters Süßigkeiten, weil ihn bei seinem ersten Geschenk das Aufglänzen ihres Gesichtleins um so einer nichtigen Sache willen gerührt hatte. Franz, der sie auch bloß für ein Kind nahm, fuhr ihr übers Haar, was er gleich bereute, weil sie erschrak und errötete. »Also, er ist nicht da«, sagte Franz fast verzweifelt in Gedanken verloren, so daß ein Stöhnen aus seiner Brust kam.
     
    Sie sah ihm nach, wie er sein Rad die Straße hinaufdrückte, und nach Kinderart war sie von dem Leid, das sie nicht begriff, doch tief angesteckt.
     
     
     
    Marnets haben ein wenig auf Franz gewartet, dann haben sie ohne ihn mit dem Essen begonnen. Ernst der Schäfer hat seinen Platz eingenommen. Jetzt geht Ernst nochmals vors Haus, um seiner Nelli einen Knochen zu bringen. Wie er aus der heißen muffigen Küche auf das Feld hinaustritt, da verändert sich sein Gesicht, und er atmet auf. Der Nebel ist heut nicht dick. In weitem Umkreis kann man die Lichter sehen von den vielen Dörfern und Städten, von Eisenbahnlinien und Fabriken, den Höchster Farbwerken, Opel Rüsselsheim. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, in einer Hand seinen Knochen, sieht sich Ernst ruhig um. Freudig hochmütig wird sein Gesicht, als sei er heute hier eingezogen an der Spitze der Seinen aus einer dunklen Vorzeit und als betrachte er nun das endgültig unterworfene Land, seine Flüsse, seine Millionen Lichter. Er erstarrt wie ein Eroberer im Anblick des Eroberten. Ist er nicht auch wirklich hier eingezogen an der Spitze der Seinen aus einer dunklen Vorzeit, hat sich das Land unterworfen, die Wildnis und die Flüsse?
     
    Ernst regt sich, er hört etwas hinter dem Acker quietschen. Das ist das Fahrrad, das Franz heraufschiebt. In dem Gesicht des Schäfers, das eben noch klar gewesen ist und beinahe erhaben, spielt die Neugierde ihr emsiges schlaues Spielchen. Warum kommt Franz so spät und warum kommt er von dieser Seite? »Alles aufgegessen«, sagt Ernst. Mit seinen frechen, scharfen Augen hat er bereits erfaßt, daß der Franz nicht gerade vergnügt ist. Mitleid macht ihm das nicht, bloß Neugierde, und auf seinem Gesicht einen Ausdruck, der bedeutet: Kleiner Franz, wie klein muß erst der Floh sein, der dich gestochen hat.
     
    Franz fühlt sich, ohne daß Worte gewechselt werden, abgestoßen von diesem Burschen, von seiner spöttischen Kälte, die ihn sonst belustigt hat. Seine Gleichgültigkeit ist ihm zuwider, schon im voraus ist ihm die Gleichgültigkeit der Menschen zuwider, unter die er jetzt gehen muß, seine Suppe zu essen, und auch die Gleichgültigkeit der Sterne, die eben über ihm aufgehen, ist ihm zuwider.
     
     
     

7
     
    Georg lief in den Abend hinein, der so verdunstet, so still war, daß es ihm schien, er könnte nie gefunden werden. Bei jedem Schritte sagte er sich, der nächste müßte der letzte sein. Aber jeder neue Schritt war immer nur der vorletzte. Kurz nach Mombach hatte er von dem Marktwagen hinuntersteigen müssen. Brücken gab es hier keine mehr, aber bei jedem Dorf eine Anlegestelle. Georg hatte eine nach der anderen zurückgelassen. Noch war der Augenblick nicht da, um überzusetzen. Alles warnte ihn. Instinkt und Verstand in einem - wenn die Kräfte des Menschen alle auf einen Punkt gerichtet

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