Das siebte Kreuz
damals zu der Wallau gesagt: »Weißt du, Hilde, das hat die Männer, auch unsere, ganz verändert.« Die Wallau hatte gesagt: »Den Wallau hat gar nichts verändert.« Sie, die Bachmann, hatte gesagt: »Wenn man einmal richtig tief in den Tod reingeguckt hat.« Die Wallau hatte gesagt: »Unsinn. Und wir? Und ich? Bei der Geburt meines ältesten Sohnes bin ich fast draufgegangen. Das Jahr drauf wieder einen.« Sie, die Bachmann, hatte gesagt: »Die bei der Gestapo wissen alles von einem Menschen.« Die Wallau hatte gesagt: »Alles ist übertrieben. Sie wissen, was man ihnen sagt.«
Als die Bachmann jetzt still und allein saß, fing das Herumgezucke in ihren Gliedern wieder an. Sie holte sich etwas zum Nähen. Das beruhigte sie. Niemand kann uns was nachweisen, sagte sie sich. Es ist ein Einbruch.
Jetzt kam der Mann die Treppe herauf. Also doch noch. Sie stand auf und richtete ihm sein Abendessen. Er kam herein in die Küche, ohne ein Wort zu sagen. Noch bevor sich die Frau nach ihm umdrehte, hatte sie nicht nur im Herzen, sondern über die ganze Haut weg ein Gefühl, als sei mit seinem Eintritt die Temperatur im Zimmer um ein paar Grad gefallen. »Hast du was?« fragte sie, als sie sein Gesicht sah. Der Mann erwiderte nichts. Sie stellte den vollen Teller hin zwischen seine Ellbogen. In sein Gesicht stieg der Suppendampf. »Otto«, sagte sie, »bist du denn krank?« Darauf erwiderte er auch nichts.
Der Frau wurde himmelangst. Aber, dachte sie, mit der Laube kann es nichts sein, denn er ist ja hier. Sicher bedrückte es ihn; wenn nur die Sache vorüber wäre. »Willst du denn nichts mehr essen?« fragte sie. Der Mann erwiderte nichts. »Du mußt nicht immer dran denken«, sagte die Frau, »wenn man immer dran denkt, kann man verrückt werden.« Aus den halbgeschlossen Augen des Mannes schossen ganze Strahlen von Qual. Aber die Frau hatte wieder zu nähen begonnen. Als sie aufsah, hatte der Mann die Augen geschlossen. »Hast du denn was?« sagte die Frau, »was hast du?« – »Nichts«, sagte der Mann.
Aber wie er das sagte? So, als habe die Frau ihn gefragt, ob er denn auf der Welt gar nichts mehr hätte und als habe er wahrheitsgemäß erwidert: Nichts. »Otto«, sagte sie und sie nähte, »du hast vielleicht doch was.« Aber der Mann erwiderte leer und ruhig: »Gar, gar nichts.« Wie sie ihm ins Gesicht sah, rasch einmal von der Näherei weg in seine Augen, wußte sie, daß er wirklich nichts hatte. Alles, was er je gehabt hatte, war verloren.
Da wurde der Frau eiskalt. Sie zog die Schultern ein und setzte sich schräg, als säße nicht ihr Mann am Tischende, sondern … Sie nähte und nähte; sie dachte nichts und sie fragte nichts, weil sonst die Antwort kommen konnte, die ihr Leben zerstörte.
Und welch ein Leben! Sicher ein gewöhnliches Leben mit den gewöhnlichen Kämpfen um Brot und Kinderstrümpfe. Aber ein starkes, kühnes Leben zugleich, heißer Anteil an allem Erlebenswerten. Wenn sie dazunahm, was sie von ihren Vätern gehört hatten, die Bachmann und die Wallau, als sie zwei kleine bezopfte Mädchen gewesen waren in einer Gasse: nichts, was nicht widergehallt hatte in ihren vier Wänden, Kämpfe um den Zehn-, Neun-, Achtstundentag. Reden, die man sogar den Frauen vorlas, wenn sie die wahrhaft teuflischen Löcher in allen Strümpfen stopften, Reden von Bebel bis Liebknecht, von Liebknecht bis Dimitroff. Schon die Großväter, hatte man stolz den Kindern erzählt, waren eingesperrt worden, weil sie streikten und demonstrierten. Freilich: ausgerottet, ermordet war man damals dafür noch nicht worden. Was für ein klares Leben. Das soll jetzt gleich durch eine einzige Frage, ja durch einen Gedanken dahin sein und verraten … Aber da ist der Gedanke schon. Was fehlt dem Mann? Frau Bachmann ist eine einfache Frau, sie ist ihrem Mann zugetan. Sie waren mal Liebesleute gewesen, sie sind schon lange zusammen. Sie ist keine Frau Wallau, die recht viel dazugelernt hat. Aber der Mann am Tischende ist ihr Mann gar nicht. Das ist ein ungebetener Gast, fremd und unheimlich.
Wo kam der Mann her? Warum kam er so spät? Er ist verstört. Verändert ist er schon lange. Seitdem er damals plötzlich entlassen wurde, ist er verändert. Wie sie sich damals freute und schrie, war es in seinem Gesicht leer und müd. Willst du denn selbst, daß es ihm geht wie dem Wallau? Nein, will die Bachmann denken. Doch eine Stimme, die viel, viel älter ist als die Frau und zugleich viel jünger, hat
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