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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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lebte und er auch. Eine Regung von Glück, so schwach und brüchig sie sein mochte, war stärker als alles, alles, was auf ihm lastete. Er fragte sich, ob sie wirklich den Film sah, den ihre aufgerissenen Augen anstarrten. Er wäre enttäuscht gewesen, wenn er erfahren hätte, daß Elli, sich und alles vergessend, mit ganzem Herzen dem wilden Ritt folgte, der durch das verschneite Land vor sich ging. Franz sah nicht mehr hin. Er sah herunter auf Ellis Arm und manchmal rasch auf ihr Gesicht. Er erschrak, als alles zu Ende war und es hell wurde. Bevor sie sich im Gedränge trennten, berührten sich ihre Hände flüchtig wie die Hände von Kindern, denen man verboten hat, miteinander zu spielen.
     
     
     

5
     
    Georg fühlte sich lockerer, sich selbst entfremdet in diesem gelblichen Mantel. Ich habe dir manches abzubitten, Belloni – Was weiter? Die Straßen würden sich bald entleeren, aus allen Cafes und Kinos die Menschen heimgehen. Die Nacht lag vor ihm, ein Abgrund, wo er ein Haus erwartet hatte. Er lief bewußtlos vor Müdigkeit, ein ausstaffiertes Gestell, von einer Feder vorwärts bewegt. Er hatte vorgehabt, Leni am nächsten Tag zu einem der alten Freunde zu schicken, zu Boland. Jetzt muß er selbst gehen. Es gab nichts anderes. Zum Glück, daß er wenigstens diese Kleider hatte. Er dachte über den kürzesten Weg nach, den er einschlagen könnte. Sich Straßen auszuhecken, sich durchzuwinden durch seinen Kopf, der nichts mehr wollte als schlafen, war ebenso quälend, als durch die wirklichen Straßen zu traben. Er kam kurz vor halb elf an. Die Haustür war offen, da sich zwei Nachbarinnen weitläufig verabschiedeten. Das helle Fenster im dritten Stock gehört Boland. Soweit war alles in Ordnung. Das Haus noch offen, die Menschen noch wach. Er zweifelte nicht, daß Boland der Rechte war. Er war der Beste unter den Möglichen. Weitaus der Beste - so daß man darüber nicht noch einmal zu grübeln brauchte. Er ist der Richtige, wiederholte sich Georg bereits auf der Treppe. Sein Herz schlug ruhig, vielleicht weil es sich nie
    mehr auf nutzlose Warnungen einließ, vielleicht weil es diesmal wirklich gar nichts zu warnen gab.
     
    Er erkannte Bolands Frau. Sie war weder alt noch jung, weder schön noch häßlich. Sie hatte einmal, fiel es Georg ein, ein Kind während einer Streikzeit zu den ihren genommen. Das Kind ohne Eltern, vielleicht weil der Vater im Kittchen saß, war abends in das Lokal gebracht worden. Und Boland hatte es an die Hand genommen, in seine Wohnung hinauf, um die Frau zu fragen, und war ohne Kind zurückgekommen. Der Abend war weitergegangen, irgendeine Besprechung für irgendeinen Aufmarsch. Das Kind unterdes hatte Eltern bekommen, Geschwister, sein Abendessen. »Mein Mann ist nicht hier«, sagte die Frau, »Sie können ja zu ihm, da drüben in der Wirtschaft.« Sie war ein wenig erstaunt, aber nicht mißtrauisch. »Kann ich auf ihn warten?« – »Das geht leider wirklich nicht«, sagte die Frau, nicht bös, aber entschieden, »es ist schon spät, ich hab ein Krankens im Haus.«
     
    Ich muß ihn abpassen, dachte Georg. Er stieg etwas tiefer und setzte sich auf die Treppe. Wenn man jetzt das Haus abschließt? Dann kann einer noch vor Boland kommen, mich finden, mich fragen. Boland kann auch in Begleitung zurückkommen. Ich kann ihn vielleicht auf der Straße abpassen, vielleicht hineingehen. Die Frau hat mich nicht erkannt, der Lehrer heute morgen hat mich für so alt wie seinen Vater gehalten. Er schlüpfte zwischen den noch immer Abschied nehmenden Nachbarinnen ins Freie.
     
    Vielleicht war es wirklich dieselbe Wirtschaft, in die man damals das Kind gebracht hatte. Die ganze Gesellschaft war im Aufbruch, ein bißchen, nicht sehr beschwipst, so laut im Lachen, daß man aus den Fenstern »Pst« machte. Fast lauter SA, nur zwei Männer in gewöhnlicher Kleidung, einer davon Boland. Er lachte gleichfalls, wenn auch auf die ihm gemäße lautlos-behagliche Art. Er sah aus wie früher. Er ging von den übrigen weg zwischen zwei SA-Leuten. Die drei lachten schon nicht mehr, sondern schmunzelten. Sie wohnten im selben Haus, denn einer schloß auf – man hatte wirklich gerade abgeschlossen -, die zwei anderen folgten.
     
    Georg wußte, daß die Gesellschaft, in der er war, für Boland nichts zu besagen brauchte. Er wußte, daß die Hemden seiner Begleiter nicht viel zu besagen brauchten.
     
    Er hatte im Lager genug gehört und Bescheid gewußt. Er wußte, daß sich das Leben der Menschen

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