Das siebte Kreuz
verändert hatte, ihr Äußeres, ihr Umgang, die Formen ihres Kampfes. Das wußte er, wie es Boland wußte, falls er wirklich der alte geblieben war. Georg wußte das alles, aber er fühlte es nicht.
Georg fühlte, wie er die letzten Jahre gefühlt hatte, er fühlte, wie man in Westhofen fühlte. Er hatte jetzt keine Zeit, sich von seinem Verstand erklären zu lassen, warum für Bolands Begleiter diese Hemden unumgänglich sein mußten und für Boland diese Begleiter. Er fühlte bei ihrem Anblick nur, was er in Westhofen gefühlt hatte. Und Boland hatte auf seiner Stirn kein Zeichen, das ihn deutlich machte. Er konnte vertrauenswürdig sein. Georg fühlte es nicht. Er konnte es sein und konnte es nicht sein.
Was soll ich nur tun? dachte Georg. Er hatte schon etwas getan, er war schon fort aus Bolands Straße. Die Stadt belebte sich noch einmal, es war das letzte Herumgelärme vor Nacht.
»Man hat die Bachmann in Worms noch verhaften müssen.« – »Warum?« fragte Overkamp grob. Er hatte sich gegen diese Verhaftung ausgesprochen, durch die man nur die Neugier und Erregung der Bevölkerung weckte, während offenkundige Schonung seitens der Polizei die Familie Bachmann am besten isoliert hätte. – »Als man den Bachmann auf der Mansarde abgeknüpft hat, da hat die Frau gebrüllt, er hätte es gestern tun sollen, vor dem Verhör, und ihr Wäscheseil sei ihr zu schade. Sie hat sich auch nicht beruhigt, als man den Mann weggebracht hat. Sie hat die ganze Umgebung verrückt gemacht, geschrien, sie sei unschuldig, und so weiter, und so weiter.« – »Wie hat sich denn da die Umgebung verhalten?« – »Teils, teils. Soll ich die Berichte anfordern?« – »Nee, nee«, sagte Overkamp, »das hat mit uns nichts mehr zu tun, das gehört ins Ressort der Kollegen in Worms. Wir haben genug Beschäftigung.«
Georg konnte sich nicht zu barer Luft verflüchtigen. Er dachte: mit der ersten besten.
Wie die nun aber hinter dem Schuppen herauskam, der mitten auf der Forbachstraße steht, hinter dem Güterbahnhof, da war sie doch schlimmer, die erste beste, als er sich das hätte träumen lassen. Er hätte sie auch nicht mit der Fingerspitze anrühren mögen. Von ihrem länglichen Kopf war das Fleisch im Wegweichen. Er hätte in dem schwachen Laternenlicht nicht sagen können, ob das lohfarbige Büschel aus ihrem Schädel herauswuchs oder an ihrer Mütze zum Schmuck angenäht war. Er fing zu lachen an. »Das ist vielleicht dein Haar?« – »Mein Haar, ja.« Sie sah ihn unsicher an, wodurch ein Anflug von Menschlichkeit in ihr Totengesicht kam. »Mir egal«, entschied er laut. Sie sah ihn nochmals von der Seite an. Dann blieb sie Ecke Tormannstraße stehen, unbewußt zögernd, aber dann doch nur, um sich Gesicht und Brust endgültig zurechtzumachen. Das mißlang und mußte mißlingen. Sie seufzte sogar auf. Georg dachte: Irgendwo wird’s ja jetzt hingehen. Vier Wände werden da sein. Wird die Tür ins Schloß fallen. Er hängte sich herzlich in sie ein. Sie gingen schnell dahin. Sie war es dann, die zuerst den Polizisten Ecke Dahlmannstraße erblickte. Sie zog Georg in ein Tor. »Jetzt ist alles verschärft«, sagte sie. Sie gingen Arm in Arm, sorgsam den Posten ausweichend, durch ein paar Straßen. Schließlich waren sie angelangt. Ein kleiner Platz, der weder eckig noch rund, sondern beides zugleich war, wie wenn ein Kind einen Kreis malt. Und der Platz und die ineinandergeschobenen Schieferdächer kamen Georg niederträchtig bekannt vor. Wenn ich hier nicht mal irgendwann gewohnt habe mit dem Franz.
Auf den Treppen mußten sie durch eine kleine Gruppe, zwei Burschen, zwei Mädchen. Eins der Mädchen knüpfte einem Burschen, der fast zwei Köpfe kleiner war, das Halstuch, zog die Zipfel nach oben. Er, der Kleine, zog sie sofort nach unten, das Mädchen wieder nach oben. Der andere Bursche hatte ein glattrasiertes Gesicht, schielte ein wenig und war sehr gut gekleidet. Das zweite Mädchen, in einem langen schwarzen Kleid, war erstaunlich schön, ein blasses Gesichtlein in einer Wolke aus flimmrigem Blaßgold. Aber ein Umtausch war jetzt unmöglich für Georg, unausdenkbar verwirrend. Außerdem war auch alles egal. Außerdem erwies sich die ungeheure Schönheit hoffentlich als pure Einbildung. Er drehte sich nochmals um. Alle vier sahen ihn gerade scharf an. Wirklich, das Mädchen war plötzlich weniger schön, ihre Nase war zugespitzt. Einer der Burschen rief: »Gut Nacht,
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