Das siebte Kreuz
Nachlebenden–.
Es wird kühl um ihn herum. Fischer fröstelt. Er möchte Overkamp bedeuten, das nutzlose Verhör abzubrechen. »Sie haben sich also, Wallau, mit Fluchtplänen getragen, seit Sie der besonderen Arbeitskolonne zugeteilt wurden?«
Ich habe in meinem Leben öfters vor meinen Feinden fliehen müssen. Manchmal ist die Flucht geglückt, manchmal danebengegangen. Einmal zum Beispiel ist es schlimm ausgegangen. Da wollte ich aus Westhofen fliehen. Jetzt aber ist es geglückt. Jetzt bin ich entkommen. Umsonst schnuppern die Hunde an meiner Spur, die sich ins Unendliche verloren hat.
»Und dann haben Sie Ihren Plan zunächst mal Ihrem Freund Georg Heisler mitgeteilt?«
Als ich noch ein lebendiger Mensch war in dem Leben, das ich lebte, traf ich zuletzt einen jungen Burschen, der hieß Georg. Ich hing an ihm. Wir haben Leid und Freud geteilt. Er war viel jünger als ich. Alles an diesem Georg war mir teuer. Alles, was mir im Leben teuer war, fand ich an diesem Jungen wieder. Jetzt hat er nur noch soviel mit mir zu tun, wie ein Lebender mit einem Toten zu tun hat. Mag er sich zuweilen meiner erinnern, wenn er Zeit dazu hat. Ich weiß, das Leben war dicht besetzt.
»Sie haben die Bekanntschaft des Heisler erst im Lager gemacht?«
Kein Schwall von Worten, eine eisige Flut von Schweigen bricht aus den Lippen des Mannes. Die Wachtposten selbst, die draußen an der Tür horchen, zucken beklommen die Achseln. Ist das noch ein Verhör? Ist man noch zu dritt dort drinnen? – Das Gesicht des Mannes ist nicht mehr bleich, sondern hell. Overkamp wendet sich plötzlich ab, er macht einen Punkt mit dem Bleistift, wobei ihm die Spitze abbricht.
»Sie mögen sich selbst die Folgen zuschreiben, Wallau.«
Was kann es für einen Toten für Folgen geben, den man aus einem Grab in das andere wirft? Nicht einmal das haushohe Grabmal auf dem endgültigen Grab hat Folgen für den Toten.
Wallau wird abgeführt. In den vier Wänden bleibt das Schweigen zurück und will nicht weichen. Fischer sitzt regungslos auf seinem Stuhl, als ob der Gefangene noch dastünde, und sieht weiter auf die Stelle, auf der er gestanden hat. Overkamp spitzt seinen Bleistift.
Georg war inzwischen bis zum Roßmarkt gekommen. Er lief und lief, obwohl ihm die Sohlen brannten. Er durfte sich nicht von den Menschen absondern, er durfte sich nirgendwo niedersetzen. Er verfluchte die Stadt.
Ehe er das Für und Wider zu Ende erwogen hatte, stand er in einer Nebengasse der Schillerstraße. Hier war er früher noch nie gewesen. Er entschloß sich fast plötzlich, Bellonis Angebot zu benutzen. Wallaus Stimme riet ihm zu. Jetzt erschien ihm der kleine Artist mit seinem ernsten Gesicht nicht mehr undurchsichtig. Undurchsichtig waren die Menschen, die an ihm vorbeigingen. Wie vertraut war die Hölle gewesen, mit dieser Stadt verglichen!
Als er schon in der Wohnung stand, die ihm Belloni bezeichnet hatte, kam sein altes Mißtrauen wieder - was für ein fremder Geruch! Nirgendwo in seinem ganzen Leben hatte es ähnlich gerochen. Die alte gelbliche Frau mit ihrem schuhwichsschwarzen Scheitel musterte ihn genau und schweigsam. Ist sie vielleicht Bellonis Großmutter? Dachte Georg. Aber die Ähnlichkeit kam aus keiner Verwandtschaft, sondern aus Berufsgemeinschaft.
»Belloni hat mich geschickt«, sagte Georg. Frau Marelli nickte. Sie schien nichts Besonderes daran zu finden. »Warten Sie hier einen Augenblick«, sagte sie. Das Zimmer war ganz übersät von Kleidungsstücken in allen Formen und Farben, der Geruch, noch stärker als im Flur, betäubte ihn fast. Frau Marelli machte ihm einen Stuhl frei. Sie ging ins Nebenzimmer. Georg sah sich um. Sein Blick ging von einem Rock, der von schwarzen Pailletten funkelte, zu einem Kranz künstlicher Blumen, von einem weißen Kapuzenmantel mit Hasenohren zu einem Fähnchen aus lila Seide. Er war zu erschöpft, um aus dieser Umgebung klug zu werden. Er sah hinunter auf seine bestrumpfte Hand. Nebenan wurde geflüstert. Georg zuckte zusammen. Er erwartete Zugriffe, das Klacksen der Handschellen. Er sprang hoch. Frau Marelli kam zurück, auf beiden Armen Kleider- und Wäschestücke. Sie sagte: »Nun ziehen Sie sich um.« Er sagte zögernd: »Ich hab kein Hemd.« - »Hier ist eins«, sagte die Frau. »Was ist mit Ihrer Hand los?« fragte sie plötzlich, »ach, darum sind Sie ausgeschieden.« Georg sagte: »Das blutet durch. Nein, ich will’s doch nicht aufmachen. Geben
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